Prolog.
Im 375. Himmel
Wieder war der Tag an seinem Ende angelangt. Das kleine Mädchen kletterte geschickt auf den nächsten Baum und genoss den Anblick der untergehenden Sonne. Ihre Augen suchten den Horizont ab. Doch wie immer sah sie nichts. Seit fünfzehn Jahren waren die Wanderwege leer. Rue konnte nur schätzen, denn ihr Himmel war zeitlos. Sie konnte sich nicht mehr an die Erde erinnern. Ein Gefühl sagte ihr, dass es dort schrecklich war. Herzlos und grausam. Sie wusste nicht wieso, doch es machte sie traurig. Nicht nur das; sie war seit fünfzehn Jahren allein. Niemand war in ihrem Himmel gekommen. Niemand wollte bei ihr sein. Manchmal hatte sie versucht die steile Felswand hinaufzuklettern, aber etwas hielt sie hier. Sie traute sich auch nicht in die Schlucht am anderen Ende ihres Himmels zu springen. Sie wollte nicht abrutschen und den unerträglichen Schmerz des Todes erneut spüren, wenn sie aufschlug. Also blieb sie wo sie war. Rues einzige Freunde waren die Tiere. Eines blickte gerade zu ihr hoch.
„Ach Busbo!“, flüsterte sie und sprang vom Baum. Busbo war ein kleines Kaninchen, das schon vor ihr im 375. Himmel gewesen war. Rue streichelte sanft seinen Kopf.
„Weißt du Busbo, ich glaube nicht, dass ich weiter Ausschau halten soll. Das war mein letztes Mal. Machen wir uns nichts vor. Es kommt keiner mehr. Bei so vielen Himmeln kommt es eben mal vor, dass man allein ist.“ Busbo sah beleidigt aus. „Natürlich nicht ganz allein!“, fügte das Mädchen hastig hinzu und nahm das Kaninchen in die Arme, „Ich wünsch mir nur noch einen anderen Menschen.“ Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. „So etwas darf ich mir nicht wünschen! Zu sterben ist eine schreckliche Sache! Ich wünsch das keinem!“ Das Mädchen grub ihren Kopf tiefer in Busbos Fell. Beruhigt über die regelmäßigen Atemzüge des Kaninchens, schloss sie die Augen und sog den vertrauten Geruch Busbos ein.
„Was sollen wir nun tun?“, fragte sie leise. Obwohl Busbo nicht sprechen konnte, verstand er sie. Sanft löste er sich aus ihrer Umarmung und sah sie erwartungsvoll an. Lachend stand Rue auf.
„Also gut Busbo! Zeig mir den Weg!“, sagte sie.
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Die goldene Wiese war einer ihrer Lieblingsplätze. Sie war nicht aus reinem Gold; die Sonne ließ das kniehohe Gras nur leuchten. Mitten auf der Wiese stand ein uralter Baum. Seine Bläter wechselten je nach Jahreszeit die Farbe. Sie fielen im Winter nicht ab, sondern wurden silbrig weiß. Nie wurde der Himmel grau und die Luft war angenehm warm. Am Baum hing Rue’s Hängematte. Auch sie konnte nach Jahreszeiten die Farbe wechseln. Daneben war ein Beutel mit allen Sachen die das Mädchen brauchte. Die vielen Fächer waren immer mit Essen, Säften, Büchern und Papieren und Stiften gefüllt. Nie wurde etwas zu knapp. Im Sommer pflückte Rue gerne Erdbeeren und schwamm im glasklaren See mit den Enten um die Wette.
„Eine der guten Seiten am Himmel!“, dachte Rue. Schnell zog sie ein sorgfältig gefaltetes Papier aus dem untersten Fach und nahm es auseinander. Vor ein paar Jahren hatte Rue eine Karte des 375. Himmel gemalt. Im Norden war die steile Felswand. Sie warf nie einen Schatten. Eher war sie wie ein großer Zaun an einer Seite. Weit entfernt im Süden lag die Schlucht. Jene Schlucht die Rue fürchtete. Genau in der Mitte sah man die goldene Wiese mit dem Baum. Dahinter weiter im Südwesten erkannte man den glasklaren See. Sonst gab es nur Wälder, Felder und Wanderwege. Im Osten war noch eine Wüste. Rue war mal durchgewandert und hatte am Ende eine baufällige Hütte gefunden. Sie musste einem Menschen gehört haben, der In die Schlucht gestürzt war. Seitdem war sie nie wieder nach Osten gegangen. Sie mied diesen Ort. Er war so einsam und voller Erinnerungen. Dafür liebte sie den Westen. Er war fröhlich und einladend. Im Westen war sie erst in den 375. Himmel gekommen, deshalb wartete sie dort auch Neuankömmlinge. Es war jedoch noch nie jemand aufgetaucht. Seufzend stand Rue auf.
„Komm Busbo!“, rief sie und lief mit dem Kaninchen dem Sonnenuntergang entgegen. Nicht ahnend, dass schon bald jemand in ihr Leben treten würde und alles veränderte was sie je kannte.