Anzahl der Beiträge : 36 Alter : 29 Howrse-Login : TitanicHorseGirl Anmeldedatum : 26.01.10
Thema: Sterbende Schreie Di Jan 26, 2010 6:02 am
huhuu (:
also, hier werd ich meine geschichte posten, es ist eine fortsetzungsgeschichte, liegt bei mir...
glg ticii (:
Tic Neues Mitglied
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Thema: Re: Sterbende Schreie Di Jan 26, 2010 6:02 am
Spoiler:
Sterbende Schreie
Man schrieb das Jahr 1912 in London. Die sonnenbeschienene Promenade an der Themse lag still vor sich da, nur vereinzelt waren Leute unterwegs. Plötzlich ertönte ein geziertes Lachen über das Wasser, viel zu laut für die morgendliche Stille. Erschreckt durch das Geräusch, flog ein kleiner Vogel aus einem Laubbaum raus. Alsbald legte ein schmuckes, kleines Boot an einem der Stege an, und zwei junge Damen stiegen aus. Es war nicht zu übersehen das sie aus wohlhabendem Hause stammten. Ihre Röcke waren reich mit schönen Fäden bestickt, und ihre Haarspangen von grossem Wert. Wirklich auffallen tat aber nur eine der Beiden. Sie hatte rotes Haar, welches von grünen Haarbändern zusammengehalten wurde. Dasselbe Grün fand man auf ihrem Kleid. Es war in genau der Farbe, aber mit roten Fäden. Sie war sehr schlank, und wurde zusätzlich noch vom Mieder ihres Kleides zusammengeschnürt, ihre Grösse dagegen war eher klein. Neben ihr verblasste die Andere. Mit blonden Haaren und einem blauen Kleid wirkte sie schlicht weg zu normal. „Marie guck mal da!“ tuschelte die Schöne ihrer Freundin zu, und zeigte auf einen jungen Herrn. „Hübsch oder?“ Entgeistert starrte Marie sie an. „Marlene! Du bist verlobt!“ meinte sie entrüstet. „Und dann zeigt man nicht mit den Fingern auf Leute!“ Es war nicht zu überhören das sie niemals eine Regel freiwillig brechen würde. Kichernd reckte Marlene das Kinn. Sie war eine stolze und unberechenbare Frau von 19 Jahren. Da sie es nicht ausstehen konnte herumkommandiert zu werden, sagte sie noch lauter um Marie zu necken: „Ich weiss aber er ist trotzdem süss.“ Diese verdrehte die Augen und stolzierte davon. „Na ja, soll sie doch“, dachte Marlene sich und sah ihrer Cousine hinterher, doch dann kamen ihr die Folgen ihres Verhaltens ins Bewusstsein. Sie hastete ihr nach, so gut es ihre Röcke zu liesen, und faste Marie am Oberarm. „Beruhige dich, ich meine es doch nicht so“ wollte Marlene Sean ihre Freundin beruhigen. Doch sie entzog den Arm und wollte weiter gehen. „Es tut mir ja leid, es wird nicht wieder vorkommen.“ Ein wenig besänftigt drehte sich Marie um und meinte: „Dann hör gefälligst auf mit dem Quatsch, wenn das dein Vater zu Ohren bekommt, hast du gewaltige Probleme und ich glaube nicht, dass James daran Freude hätte.“ Marlene zog die Augenbrauen hoch. „Hast du die Absicht zu petzen?“ Eine fast unsichtbare Röte überzog auf diese Frage hin Maries Wangen, und sie gab sich sichtlich Mühe nicht die Augen niederzuschlagen. Ungläubig starrte Marlene sie an. „Warum?“ hackte sie sofort nach, „willst du mir etwa meinen Zukünftigen ausspannen?!“ Unmerklich war sie lauter geworden, einige Leute drehten sich schon nach der Streitquelle um. „Ich bitte die Damen, beruhigen sie sich.“ Piepste daraufhin einer der Diener. Zornfunkelnd blickte sie ihm in die Augen, woraufhin er sich unwohl in seiner Haut zu fühlen begann, es war einem Dienstboten schliesslich nicht gestattet den Arbeitgeber und seine Familie zurechtzuweisen. Doch Marlene verkniff sich einen Kommentar, um nicht noch mehr Ärger anzurichten, auch so würde dieser kleine Vorfall schnell die Runde machen und Gerüchte würden sich ausbreiten. Das war einer der grossen Nachteile, wenn man in den höheren Gesellschaften Londons lebte. Jedes kleinste unachtsame Wort der falschen Person gegenüber, und man war in aller Munde. Schweigend spazierten sie weiter, jede hing ihren Gedanken nach. „Nein, das habe ich nicht vor, meine Partie ist ja schon fast sicher“, murmelte Marie, als sie einige Metern gegangen waren, plötzlich entschuldigend. Besänftigt vergab Marlene ihr, es blieb ihr gar nichts anderes übrig, ansonsten hätte Vater bestimmt über den Streit zwischen seiner Tochter und Nichte erfahren und sie gescholten, und dann wäre auch der Grund ans Tageslicht geraten. Am Ende des Sonntagsspazierganges wartete eine prachtvolle, rote Kutsche. Ohne einen Blick auf die prunkvollen Verschnörkelungen zu werfen, stiegen die Cousinen ein. Die Fahrt verging schweigend, nur das Klappern der Hufe, von den zwei Schimmeln, welche das Gefährt zogen, war zu hören. Kurz darauf ertönte ein langgezogenes „Hooh“ und die Kutsche stand still. Das Elternhaus von Marlene war ein stattliches Gebäude. Allein die Fassade welche von der Strasse aus zu sehen war, zählte an die 19 Fenster und ein stattliches Portal. Daneben stand noch ein hünenhafter, weiss gestrichener Stall, aus welchem gerade aufgeregtes Gewieher ertönte. Er war gerade erst renoviert worden, und nun der grösste Stolz ihres Vaters, da in diesem Gebäude fünfunddreissig wunderschöne Pferde untergebracht waren. Marlenes Vater sammelte Spitzenpferde wie andere Briefmarken. Drei davon gehörten Marlene. Ein fuchsfarbener Vollblutaraber namens Melchior, welchen sie zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, weil er eine Sehnenverletzung gehabt hatte, und nun nicht mehr auf grossen, internationalen Turnieren starten konnte. Das zweite Pferd war eine Andalusierschimmelstute mit dem Namen Trisana, ein temperamentvolles Dressurpferd. Der letzten im Bunde machte ein Pinto welcher Winnetou hiess. Marlene ritt ihn immer wieder auf einer Fuchsjagd, wenn es den ihr Vater zuliess. Wenn man hinter das Haus kam, erblickte man einen gigantischen Hof auf welchen gerade eine andere Kutsche einbog um eine entfernte Tante auszuladen, welche die nächsten Wochen bei ihnen wohnen würde. Ausserdem gab es ein Haus in welchem die Angestellten schliefen. Auf dem Reitplatz war zurzeit der Reitlehrer mit einem erst vor kurzem zugerittenen Pferd bei der Bodenarbeit zugange. Marlene seufzte. Zu gerne hätte sie ihm weiter zugesehen, doch sie musste an der Familienversammlung welche ihr Vater einberufen hatte, teilnehmen. Das Thema erahnte sie schon jetzt. Steven würde Marie einen Heiratsantrag machen. Ihr tat ihre Cousine leid. Steven war zwar ein wohlhabender Mann, aber schon an die vierzig Jahre alt und gut beleibt. Doch Marlenes Vater Charles fand, dass er eine vorteilhafte Partie für seine Nichte sei. Da hatte sie schon einen Besseren abgekriegt. James war ein einfühlsamer und lieber Mann, welcher auf ihre Wünsche einging. Als vor drei Jahren Maries Eltern bei einem sonntäglichen Ausflug bei einem Schiffsuntergang auf der Themse ins Wasser fielen, ertranken sie, da sie nicht schwimmen konnten. Ihre Tochter dagegen hatte Glück gehabt und konnte sich auf ein Boot in der Nähe retten. Seither wohnte sie bei Marlenes Familie, weshalb Charles ihren Zukünftigen auswählen durfte. Marlene stieg die Treppen zur Hintertüre hoch, sorgfältig darauf bedacht das sie nicht auf ihr Kleid trat. Sie hielt sich am liebsten in der Küche bei all den Mägden auf und half beim Kochen. Der Prunk des Hauses empfand sie nur als lästig. Für was brauchte man versilberte Löffel, wenn es einen aus Holz doch auch tat? Doch niemals durfte sie eine solche Frage äussern, dass hätte zu einem enormen Skandal geführt. Nach allen Seiten grüssend durchquerte sie nun den Kochraum, in welchem momentan sieben Köchinnen daran waren, ihr Mittagessen zuzubereiten. Aus dem grossen Ofen qualmte es, als Junidga, eine spanische Angestellte des Hauses den Ofen schürte. Von allen Seiten drang ihr Gelächter entgegen und die ausgelassene Stimmung gefiel Marlene immer wieder aufs Neue. Freundlich wurde ihr zurückgenickt und gewunken, die Diener mochten sie, nicht nur, weil sie manchmal heimlich eine kleine Münze bei ihrem Vater entwendete und sie den anderen zusteckte. Ihrem Vater fiel es nie auf, ob ein wenig Kleingeld fehlte. Marlene öffnete jetzt die schlichte Tür und fand sich im Wohnzimmer wieder. Sofort war sie wie in eine andere Welt getaucht. Eine Uhr mit Goldzeigern hier, ein silbernes Schwert aus Ritterzeiten dort. Sie traf Marie wieder, welche durch die Eingangshalle gegangen war, ihre Cousine fühlte sich nicht wohl unter den ärmeren Leuten. Die Versammlung verlief wie Marlene gedacht hatte. Teetrinkend musste sie den neusten Klatsch und Tratsch anhören. Angeblich war die Tochter aus der Familie Steward mit einem jungen nicht so wohlhabenden Mann ausgegangen. Ein Skandal für die Gesellschaft, für Marlene nur eine Nichtigkeit. Sie konnte es nicht begreifen das man so auf das Geld schaute. Als eine kurze Atempause im Saal eintrat, nickte Charles, welcher am Kopfende der Tafel sass, Steven zu, welcher nun aufstand und sich vor Marie niederkniete. Sogleich überzog eine feine Röte ihre Wangen. „Willst du meine Frau werden, geliebte Marie Acloudine o’ Hara-Sean?“ Die Angesprochene öffnete den Mund, verschloss ihn dann aber wieder. Marlene war sich sicher, das sie noch nach den passenden Worten für ein Nein suchte. Doch dann sprach Marie leise; „Liebend gerne, Steven Johnson.“ Erfreut steckte Steven ihr einen Ring, welcher zweifellos ein Vermögen gekostet haben musste, an. Der Stein sah einem Diamanten sehr ähnlich, und die Halterung war wie es den Anschein machte aus purem Silber. Zu Maries Ungunsten musste das Ganze mit einem Kuss besiegelt werden. Als alle Blicke Steven zu seinem Platz zurückverfolgten, wischte Marie sich verstohlen den Mund an der Serviette ab und schaute den Ring hasserfüllt an. Später nachdem die Versammlung aufgelöst worden war, stiegen Marlene und Marie die Treppe hoch. Vor der Zimmertüre von Marie machten sie halt. Urplötzlich brach sie in Tränen aus. „Was hast du denn?“ fragte Marlene erschrocken. Sie nahm sie am Arm und führte sie in das Gemach. Die Tränen rannen ihrer Cousine über die Wangen wie Sturzbäche. Im Zimmer setzte sie sich auf das Bett und Marie kniete vor sie hin. Sie versuchte sie zu trösten und aus ihr rauszukriegen warum sie weinte. „Ich will ihn nicht heiraten, er ist so alt“, schluchzte Marie schliesslich. Mitfühlend strich Marlene ihr über den Arm. Sie konnte sie sehr gut verstehen, aber zu machen war da nichts. Während ihre Cousine weinte sah sie sich im Zimmer um. Hier war sie noch nie gewesen, trotz all der Jahre. Es war Maries Eigentum und Rückzugsort. Ein kleines Waschbecken war neben dem grossen Fenster, vor dem ein antikes, pompöses Sofa stand, eingelassen. Ein niedriger Schreibtisch und ein Stuhl standen an der rechten Zimmerseite, das Bett auf welchem sie sass an der linken. Durch das Fenster hindurch sah man wunderbar über den Park und Reitplatz. Das ganze Zimmer war in sanften Grün- und Gelbtönen gehalten. Es gefiel Marlene auf Anhieb. Die Tapete war mit kleinen Blümchen geschmückt, und auf dem Schreibtisch standen winzige Porzellanfiguren. Was Marlene stutzig machte, war das man nirgends ein Anzeichen von Maries Eltern sah. Weder ein Foto, noch das alte Medallion, welches von Generation zu Generation in der Familie o’ Hara weitergegeben worden war. Sobald sich Marie ein wenig beruhigt hatte, und Marlene sicher sein konnte das sie nichts Dummes anstellen würde, verliess sie das Zimmer. In dem ihren kleidete sie sich rasch um, Marlene wollte noch unbedingt vor dem Mittagessen eines ihrer Pferde besuchen und reiten gehen. Im Stall sattelte sie selbstständig Trisana und führte sie auf den Reitplatz. Das Aufwärtraining verlief harmlos und ruhig, und nach ein paar Dressurfiguren war ihre Stute vollkommen gelöst. Urplötzlich jedoch sprang die Stute beiseite. Marlene sah, dass Chooper, der kleine Kläffhund geradewegs vor die Beine der Stute gelaufen war. Mit der langen Gerte wedelte sie den Hund davon, und wenige Sekunden später kam auch schon Maenco, der oberste Stallaufseher herangerant. „Entschuldigen sie, My Lady. Er muss die Leine zerbissen haben.“ Sie nickte ihm als Akzeption zu und fuhr mit den Figuren fort. Schliesslich stand die Sonne schon zu nahe am Zenit, als dass es möglich gewesen wäre ihren Pinto zu reiten. Sie stieg ab und führte die Stute noch trocken, dann übergab sie sie voller Abscheu an einen Pferdepfleger. Marlene war der Meinung, dass wenn man ein Pferd ritt, auch für es sorgen musste. Doch ihr Vater würde ärgerlich werden, falls sie zum Mittagessen zu spät kam. In aller Eile kleidete sie sich um.
„Also dieses steht dir sehr gut,“ lobte Marlene Marie. In Wirklichkeit fand sie das weisse Kleid mit all den Rösschen und Rüschen unmöglich hässlich. Doch nach stundenlangem Ansehen von Brautkleidern log auch mal die beste Freundin, damit sie endlich aus dem noblen Laden herauskam. Sie ertrug das herumschleichen um sie herum der Verkäuferin nicht mehr, welche immer wieder etwas Neues holte und es Marie regelrecht befohl anzuziehen. Stirnrunzelnd betrachtete sich Marie im Spiegel. „Ach ich nehme doch lieber das vierte Kleid...“ murmelte sie dann und Marlene verdrehte die Augen. Marie zog sich wieder normalen Röcke über. An der Kasse trafen die Cousinen Marlenes Mutter, welche sich auch ein Kleid ausgesucht hatte. Schliesslich war eine Hochzeit eine Art Präsentation des Reichtums einer Familie. Marlenes Kleid hing schon bei ihr im Schrank. Es war dunkelrot und mit schwarzen, beigen Fäden und Bändern durchzogen. Es waren jetzt nur noch zwei Tage bis zur Vermählung ihrer Cousine und die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Drei Wochen waren jetzt seit dem Antrag vergangen, und seither war Marie unter Hochspannung. Trotz dem verliefen die Wochen für Marlene zäh und langweilig. Jeden Tag ritt sie mehrere Stunden und spielte danach Klavier, wenn ihr Vater zu Hause war. Sie verabscheute es. Warum sollte sie dies lernen, wenn sie es sowieso nicht konnte, und nicht können wollte? War Charles aber nicht im Haus, dann war sie in der vor Rauch stinkenden Küche und lernte kleine Rezepte zu kochen. Junidga nahm sie besonders freundlich auf. Sie führte Marlenes Hand und schelte sie auch Mal, wenn sie etwas vollkommen falsch gemacht hatte. Dies schätzte Marlene besonders an ihr, nämlich dass die kleine, junge Frau kein Blatt vor den Mund nahm, und ihr ihre eigene Meinung unverblümt zeigte. Die Hochzeit würde im Big Ben stattfinden und danach würde es ein feines Mahl und ein langes Fest mit vielen Gästen geben. Sehr zur Bestürzung von Marie, denn diese wollte eigentlich nur in kleinem Kreise feiern, doch Charles hatte darauf bestanden möglichst alle seine Bekannten einzuladen. Kurz nachdem die Einkaufstruppe wieder zu Hause angelangt war, stürzte sich Marlene in ihre Reitkleider und ging, halb rannte sie, nach draussen. Schnell hatte sie Melchior geputzt und aufgezäumt. Es war eine anstrengende Stunde, und danach hatte sie einen grossen Hunger. Dennoch gemütlich versorgte sie ihr Pferd und ging dann ins Haus um beim Essen zu helfen, auch wenn ihr Vater es nicht gerne sah. Für ihn war das einfach eine Arbeit für die Armen, Minderbemittelten, was er ihr, als er sie vor der Tafel beiseite zog, mitteilte. „Ich will nicht, dass du so kochen lernst!“ wies er sie zurecht. „Aber Vater, dass ist das feine Essen, was wir jeden Tag essen, was hast du daran auszusetzen?“ „Natürlich das du bei diesen Armen arbeitest, nicht das Essen. Du wirst ab jetzt bei deiner Tante jeden Tag drei Stunden unterrichtet werden.“ Irritiert runzelte Marlene die Stirn: „Was soll sie mich den lehren?“ fragte sie schlussendlich. „Deine Fähigkeiten im Sticken und Nähen lassen zu wünschen übrig, hat mir deine Mutter mitgeteilt. Du wirst dich also ab jetzt jeden Tag um zwei Uhr Nachmittags bei Tante Rosmes Gemächern einfinden.“ Damit war die Unterredung beendet. An diesem Abend ging sie früh schlafen, sie konnte die vielen Gesichter rund um den Tisch nicht mehr ansehen. Es wurde nur noch über die Vermählung gesprochen und auch Marlenes Cousine war bald von der Tafel geflohen.
Am nächsten Tag glich das Haus einem Ameisennest. Überall wurden noch hastig, vergessene Vorbereitungen getroffen. All ihre Tanten und Onkel hatten die schönsten und prunkvollsten Kleider aus den Schränken geholt, jeder wollte den Anderen im Wert der Edelsteine und Kleider übertreffen. Marie sass die ganze Zeit im Zimmer ihrer Cousine und heulte dieser die Ohren voll. Sie jammerte und schluchzte, warum sie so ein Los verdient hätte. Schliesslich platze Marlene den Kragen. „Mein Gott, du wirst morgen schrecklich aussehen, wenn du so weiterheulst!“ blaffte sie ihre Cousine zornig an und schüttelte sie an der Schulter. „Hör endlich auf!“ Erschrocken verstummte Marie. Klar, Marlene war manchmal etwas zu direkt, doch sie war immer hilfsbereit mit einem offenen Ohr für jeden. Aber jetzt konnte sie sich nicht mal mehr von ihr trösten lassen, dass war sie nicht gewöhnt. Der Tag war ein endloses Warten auf den nächsten. Nur als Marlene reiten ging, hatte sie das Gefühl, frei zu sein, tun zu können, was sie wollte. Winnetou schob verschmust sein Maul mit der hängenden Unterlippe, welcher ihm den Spitznamen Kleiner Narr eingebracht hatte, über Marlenes Schulter und sog den Duft ihres Haares auf. Regungslos verharrte Marlene, genau diese „Liebe“ brauchte sie jetzt. Prustend zog er seinen Kopf wieder zurück und schaute sie aufmerksam an, gerade, als ob er fragen wollte, ob sie endlich beginnen konnten.
Am nächsten Morgen weckte das geschäftiges Hin und Her im Haus, Marlene. Sie zog sich das dunkelrote Kleid an, und bürstete sich die Haare. Alay, eine Dienerin, würde ihr später die Hochsteckfrisur machen. Zufrieden musterte sie ihr Gesicht im Spiegel. Die grünen Augen leuchteten und ihre vollen Lippen glänzten. Fröhlich ging sie runter in die Küche und schenkte sich ein Glas Milch mit Honig ein. Das Gewusel war unmöglich. Der Esssaal, welcher normalerweise auch schon normal prunkvoll war, platze heute fast vor lauter Glamour. „Wie konnte das nur vergessen gehen?“ erschallte plötzlich eine laute Stimme quer durch den Saal. Charles schien sich über etwas enorm aufzuregen. „Holt mir von irgendwo diese Blumen, oder ihr seit gefeuert!“ fuhr er fort. Herje, dachte Marlene. Das war aber wirklich unglücklich! Sie beendete ihr Frühstück und wollte sich gerade in ihr Gemach zurückstehlen, als sie wiederum die laute Stimme ihres Vaters ertönte. „Marlene, komm sofort zu mir!“ herrschte er sie über die Köpfe all der anderen Leute an. Schnell hastete sie zu ihm: „Ja Vater?“ „Was im Namen des heiligen Geistes erlaubt dir wie eine Dirne herumzulaufen?“ fragte er sie fassungslos. „Vater, ich hab mich wohl verhört? Was meinst du?“ Stirnrunzelnd wartete Marlene die Antwort ab, doch Charles schenkte ihr nur einen wütenden Blick und fasste ihr grob in ihre offenen Haare. Er drehte sie um und begann ihre langen, lockigen Haare zu einem straffen Zopf zu flechten, so dass es ihr Tränen in die Augen jagte und sie einen Schrei unterdrücken musste. Sie hatte doch nicht daran gedacht, ihre Haare zusammenzubinden, wo sie doch sowieso schon frisiert würde. Wie tausend Nadeln stach es in ihrem Nacken, doch sie wollte sich vor ihrem Vater und all den Anderen keine Blösse geben und flüchtete endgültig in ihr Gemach. Oben wurde sie schon geduldig von Alay erwartet, welche die Tränen, welche Marlene nun begannen aus den Augen zu rinnen, mit mitleidigem Gesicht wahrnahm. Die nächsten Stunden verbrachte sie damit herumzusitzen und ihren Kopf still zu halten. Die vor Aufregung nervösen Finger von Alay zupften immer wieder hart an einer Haarsträhne, worauf sich die Dienerin stammelnd entschuldigte. Als Marlenes Mutter sich dazusetzte, wurde dass Ganze noch schlimmer. Zeitweise zerrte Alay an den Strähnen. Schliesslich brach sie in Tränen aus. Schnell stand Marlene auf und tröstete sie, einen Seitenblick auf ihre Mutter werfend, sah sie das diese dies überhaupt nicht billigte. Trotzig wandte sie sich ab und fuhr damit fort, Alay zu beruhigen. Als ihre Frisur endlich doch sass, war es schon an der Zeit zur Kirche zu gehen. Wie war sie gespannt, was Marie für ein Aussehen zur Schau tragen würde. Draussen wartete die schönste Droschke der Familie.
In der Kirche sass sie in der zweiten Reihe. Die Organisten begannen ein langsames Lied zu spielen und Marlene stiegen Tränen in die Augen. Irgendetwas rührte sie an dieser Melodie, ganz tief in ihrem Herzen, doch sie wusste nicht was es war. Plötzlich gingen die grossen Flügeltüren auf, und Charles führte Marie am Arm herein. Sprachlos blickte Marlene sie an. Die Haare waren hoch auftoupiert worden und mit verschiedenem Schmuck verschönert, das Gesicht wunderschön geschminkt. Doch irgendetwas fehlte. Erst als Steve hereinkam, fiel Marlene ganz auf, was es war. Ihrer Cousine fehlte das Leuchten in den Augen, sie waren einfach stumpf und blau, ohne jegliches Lebenszeichen. Im Gegensatz zu dessen, ihres zukünftigen Ehemannes. Dieser strahlte, als ob er die ganze Welt umarmen wollte. Für ihn musste heute ein Traum in Erfüllung gehen. Der Pfarrer sprach erst etwas von Liebe und Treue, dann wurden verschiedene Lieder gesungen. Doch dann kam es zur elementaren Frage, und Marlene grauste es vor der Antwort ihrer Cousine. „Willst du, Marie Acloudine o’ Hara-Sean, Steven Meilord Johnson, zu deinem rechtmässig Angetrauten nehmen, und ihn lieben und ehren wie in guten so auch in schlechten Zeiten?“ Entsetzt sah ich wie Marie ihren Kussmund zu einem „nein“ formte. Doch schnell besann sie es anders und sagte hastig „ja ich will“. Sie konnte niemanden täuschen, man sah ihr an, wie es ihr danach gegen den Strich ging, Steven zu küssen, welcher natürlich ebenso ja gesagt hatte, wenn auch so übereifrig das er sich verhaspelte. Als das Brautpaar sich zum Ausgang hinbewegte, zitterten Maries Beine für jeden sehbar und Tränen rannen ihr aus den Augen. Um Klatsch zu vermeiden, hörte Marlene ihre Mutter neben sich rufen: „Oh schaut nur, sie weint so gar vor Freude!“ Angewidert wandte sie sich ab, in der Hoffnung, das James ein wenig disziplinierter sein würde.
Die Tafel danach war ein einziges Desaster. Marlene sass auf ihrem Stuhl und hörte dem Floskel zu, welcher wieder einmal die Runde machte. Herjemine. Die Tochter der Familie Steward, war schwanger. Natürlich von dem „Strassenjungen“, wie der nicht so wohlhabende Mann genannt würde. Die junge Frau tat Marlene Leid, und doch bewunderte sie deren Mut, zu ihrer Liebe zu stehen. Aria, Marlenes Mutter, flüsterte und tratschte mit Donja von Vancou. Auf der anderen Seite hörte sie James mit ihrem Vater Charles flüstern. Aufmerksam spitzte sie ihre Ohren doch sie hörte nicht viel, nur einige Wortfetzen. „Es geht zu weit, Charles!“ hörte sie James mit erregter Stimme sprechen. Wie bitte? Ihr Verlobter belehrte ihren Vater? „Aber, ich kann nicht mehr aufhören. Es würde noch riskanter, wenn uns jemand verpfeift, weil er denkt, jetzt können wir nichts mehr tun!“ kopfschüttelnd blickte Charles in die Augen seines zukünftigen Schwiegersohnes. Dieser schaute genervt und grimmig. „Kann ich aussteigen, weil, ehrlich-“ der Rest seines Satzes ging in in den Applaus, welcher der gerade servierten Torte gespendet wurde. Marlene grübelte noch lange über diesen Teil des Gesprächs nach, welchen sie verstanden hatte. Worüber hatten die beiden gesprochen? Was, dass sie taten war geheim? Hatte es etwas mit der mürrischen Miene ihres Vaters zu tun, welche er in letzter Zeit immer mehr zur Schau trug? Diese Fragen kreisten immer wieder in ihrem Kopf herum. Als sie ihre Mutter darauf ansprach, wandte diese schnell, zu schnell, den Blick ab, und murmelte, sie wüsste von nichts, warum Marlene den nicht mit ihrem Vater spräche. Diese beschloss ihren Bruder auszufragen, welcher soeben aus Paris zurückgekehrt war. Irgendjemand musste doch etwas wissen! John sass im Pferdestall auf einem Strohball, quatschte und lachte mit Domjo, dem Stallburschen. „Kann ich dich kurz sprechen?“ unterbrach Marlene die zwei, und überging den Blick von Domjo, welcher wie immer an nicht sehr anständigen Stellen haften blieb. „Klar.“ John runzelte die Stirn. Sobald sie sich zurückgezogen hatten, platzte sie mit allem heraus, was sie gehört hatte, und was sie dachte. „Ich weiss von nichts.“ unterbrach John plötzlich barsch Marlenes aufgeregtes Erzählen, verabschiedete sich und stiefelte zurück zum Stall. Dort holte er sein Pferd und ritt zu einem langen Ausritt davon. Er musste seinen Kopf lüften. Als Marlene sicher war, das er weg war, ging sie ebenso wie ihr Bruder vorher, in den Stall zu ihrer Trisana. Auf dem Weg zur Kammer, wo das Putzzeug war, begegnete sie Domjo. Ausgerechnet in einer dunklen Ecke. Sie drückte sich an ihm vorbei, weil er keinen Millimeter zur Seite wich. Plötzlich, nachdem sie an ihm vorbei war, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Domjo hielt ihr urplötzlich den Mund zu, drückte sie gegen die Wand und strich ihr über ihr Haar, ihre Schultern. Seine Hand wanderte immer weiter. Marlene holte aus, und schlug ihn voller Kraft. Keuchend rannte sie davon, direkt in das Arbeitszimmer von Charles hinein. Dieser schaute erstaunt auf. „Was ist den los, Darling?“ fragte er besorgt als er ihre Aufmachung sah. „Domjo, er. Hilfe, berührt“ Marlenes Worte kamen nur in Bruchstücken, schliesslich brach sie in Schluchzen auf. Ihr Vater reimte sich nach einer kurzen Zeit, der runzelten Stirn, alles zusammen, stampfte aus dem Büro und kam mit Domjo zurück. „Stimmt das?!“ fuhr er ihn wütend an. „Das du meiner Tochter nachstellst?“ Der Angesprochene senkte den Kopf. Charles holte aus, überlegte es sich dann anders und schickte Domjo mit diesen Worten aus dem Zimmer: „Wehe, du lässt dich hier noch einmal blicken!“ Dann ging er zu seiner Tochter und tröstete sie, was sonst gar nicht seine Art war.
Die Tage verronnen, ohne das Marlene etwas in Erfahrung bringen konnte. Derweilen wurde ihre Mutter immer seltsamer und verschwiegener, auf Fragen diesbezüglich, antwortete sie nicht. Kopfschüttelnd schaute er im verborgenen zu. Wenn sie ihre Neugierde nicht zügeln wird, muss ich mich darum kümmern. Dachte er.
Erfreut blickte Marlene ihren Vater an. Der Vorfall von Domjo, war in ihr Hintergedächtnis gerutscht. „Ich danke dir Charles, dass freut mich sehr.“ dankbar schaute sie in die Augen von ihrem Vater. Dieser war froh sie ein wenig ablenken zu können. Er hoffte das James nicht heute die Rache ausführen würde. Er war sich nämlich nicht mehr genau sicher, wann, an welchem Tag sie es ausgemacht hatten. „Schon gut, Darling. Aber zieh dein schönstes Kleid an, die Royals dulden keine Strassenmädchen.“ sagte er zwinkernd. „Mutter, Mutter!“ Marlene rannte ganz undamenhaft in das Zimmer ihrer Mutter. „Wir fahren heute in die Oper der Royals!“ sie freute sich wie ein kleines Kind. Aria nickte müde. „Ich weiss mein Schatz.“ Marlene liess sich ihre Freude nicht nehmen, ging in ihr Zimmer und klingelte nach Felicita. Diese kam erst nach wenig Minuten, und klopfte an die Zimmertüre. „Wo warst du solange?“ fragte Marlene erstaunt, doch nicht verärgert. „Es tut mir leid für die Verspätung, Miss. Ich musste noch die Wäsche fertig machen.“ An Marlenes Stelle, hätte Charles jetzt seiner Verärgerung Luft gemacht. In solchen Sachen war er pingelig. Es war schon vorgekommen, dass er eine Dienstmagd wegen einem alltäglichen Klappern der Kaffeetasse zum Morgentisch, entlassen hatte. „Schon gut, meine Liebe.“ antwortete Marlene Felicita, „ kannst du mir helfen, ein schönes Kleid auszusuchen?“ Ohne grosse Worte machte sich Felicita gleich daran, Marlenes Kleiderschrank zu durchwühlen. Schon bald hatte sie ein braunes Kleid mit beigen Bändern aus dem pompösen Schrank gezogen und hielt es Marlene hin. Diese schlüpfte hinein und das Dienstmädchen schnürte ihr das Korsett zu. „Darf ich fragen, wo ihre den hinwollt, Miss?“ meldete sich Felicita plötzlich schüchtern. Erstaunt drehte Marlene sich um. „Hör doch bitte auf, mir gegenüber so unterwürfig zu tun!“ meinte sie dann. Die Angesprochene blickte erschrocken und antwortete dann: „Wie sie wünschen. Danke.“ „Ich kann das nicht sehen, wenn du dich so unterwirfst. Ich bin nichts besseres als du. Sei mir gegenüber einfach wie gleichgestellt“, blinzelte Marlene ihr zu. Wie wird mein Vater das wieder missbilligen... dachte sie dann. Schnell rief sie Felicita noch einmal zurück, welche gerade aus dem Zimmer treten wollte. „Aber bitte behalte deine alte Art, vor meinem Vater, bei. Er sieht es nicht gerne wenn ich solche von niedrigerem Stand nicht hoheitsvoll behandle.“ Als sie den Blick des Dienstmädchens sah fügte Marlene noch sehr schnell hinzu. „Für was ich mich schäme!“ Alay machte Marlene die Haare. Wären dessen dachte Marlene über die Oper nach. Sie war ein stattliches und glamourvolles Gebäude mit fünf Rängen und demnach war die Bühne riesig. Ohne Zögern hätte Marlene ein Angebot als Sängerin angenommen, falls sie gefragt worden wäre. Was natürlich nicht realistisch war, da sie einfach zu unscheinbar sang. Trotzdem wäre es ihr eine Ehre dort spielen zu dürfen. „Sorry, Miss“ beeilte sich Alay u sagen, als sie Marlene mit einer Haarnadel stach. Diese seufzte und bot dann Alay ebenso an, sie nicht so unterwürfig zu behandeln wie sie es bei Felicita getan hatte. Nachdem ihre Frisur sass, nahm sie ein Buch und fuhr fort, die spannende Geschichte über Monsieur Demont aus Paris zu verfolgen. Sie kam nicht weit, als Josef reinkam um sie nach unten zu geleiten. Marlene war angespannt. Seit drei Monaten war sie nicht mehr in der Oper gewesen, eine Ewigkeit wie ihr vorkam. Sie liebte die klaren, hellen Stimmen der Sänger und Sängerinnen. Kurz darauf sass sie in der Droschke und strich ihr Kleid glatt. Sogar zu diesem festlichen Anlass, zeigte das Gesicht ihrer Mutter keinerlei Regung. Und das, obwohl sie sich früher immer so gefreut hatte in die Oper zu gehen. Heute würde „Die Zauberflöte“ von Mozart gespielt werden, eines ihrer Lieblingsstücke, weil es so fröhlich war. Als sie vorfuhren, öffnete ein junger Diener die Türe mit einer Verbeugung und half den beiden Damen hinaus. Marlenes Mutter verlor kein Wort, doch ihre Tochter bedankte sich unter dem missbilligendem Blick ihres Vaters herzlich. Wie immer, wenn Marlene in die Oper trat, hielt sie den Atem an. Heute würden sie im „Parterre“ in der Mitte sitzen, die wohl besten Plätze aus Marlenes Sicht. Kurz nachdem sich alle gesetzt hatten, begann das Orchester mit der Ouverture, und die letzten Gespräche verstummten. Die ganze Vorführung verfolgte sie mit einer ungeheuren Spannung. „Ich gehe schnell auf die Toilette, meine Kleine“, hörte sie die Frau des Dirigenten neben sich zu ihrer Tochter Beth sagen. „Aber Mutter!“ protestierte diese, „doch nicht jetzt, die Oper dauert ja nicht mehr lange!“ „Psst!“ ertönten dann schon die ersten Zische von den hinteren Sitzen. Doch Mary Clay bahnte sich schon ihren Weg. Wenig später, und urplötzlich, schrie jemand. Es konnte nicht Teil der Oper sein, dazu war die momentane Szene mit Papageno und Papagena zu fröhlich. Der Schrei wurde immer lauter und grellender. Längst war die Aufmerksamkeit aller Leute nicht mehr auf die Vorgänge auf der Bühne gerichtet. Die Sänger und das Orchester blickten irritiert zur Decke, von dort der Laut kam. Und dann fiel sie. Ihr vorher noch so schön hoch gestecktes Haar hatte sich gelöst, und das violette Kleid flatterte. All das geschah in Sekundenbruchteilen, Dann schlug sie, die schöne Frau, auf der Bühne auf. Man sah sofort, dass Mary Clay diesen Sturz von der Balustrade oberhalb der Kulissen, nicht überlebt haben konnte. Unter den Operngänger, welche sich bisher so starr in ihre Sitze gekrallt hatten, brach Panik aus. Diener schlossen, wie Marlene bemerkte, augenblicklich die Türen der Ein- und Ausgänge. Die Spieler des Orchesters und die Interpreten der Zauberflöte versuchten verzweifelt den Dirigenten zu beruhigen, und Marys und seine Tochter daran zu hindern, auf die Bühne zu ihrer toten Mutter zu stürzen. Dabei rutschte Beth ab, und fiel rücklings in den tiefen Orchestergraben. Wie gelähmt blickte Marlene zu den Balustraden, welche sie von ihrem Platz aus in der Finsternis erahnen konnte. Ein Schemen. Was war das? fragte sie sich erstaunt und voller Angst. Doch sie wusste diese Entdeckung erst mal für sich behalten, denn ihr Vater zog sie und ihre Mutter in Richtung Ausgang. „Lassen Sie uns durch!“ herrschte Charles den Diener an, welcher die Tür versperrte. „Sehen Sie denn nicht, das meine Frau gleich umkippt?“ fügte er mit mächtiger Stimme hinzu, als der Diener wortlos seinen Kopf schüttelte. In der Tat, jetzt sah es Marlene auch. Ihre Mutter war kreidebleich und schwankte von einem Augenblick zum anderen mehr. Sie hatte schon immer ein schwaches Gemüt gehabt, fiel Marlene ein, und jetzt das... Die beste Freundin, oder auch Klatschtante, hatte Aila Sean sterben sehen. Was es ihr selbst ausmachte, so weit dachte sie gar nicht. Momentan wollte sie einfach nur weg hier. Schlafen und vergessen. Mittlerweile drängelten auch andere zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln erblickte sie James, welcher sich durch das Menschenchaos zu ihnen hindurch schob, und dann Marlene ein wenig unbeholfen in die Arme schloss. Es kam so gut wie nie vor, dass er in der Öffentlichkeit eine Geste der Liebe erkennen liess. Sie umarmte ihn zitternd, und endlich floss bei ihr die erste Träne. „Die arme Maria“, schluchzte sie und der Lärm, die Schreie der Menschen, welcher sie umgab, liess nach. Für diesen Moment gab es nur sie und James, welcher ihr zärtlich über die Wange strich. „Keine Sorge“, murmelte er, „sie kümmern sich um sie. Denk du jetzt an dich, bestimmt ist alles nur halb so schlimm.* Marlene wusste, dass er log, es war unmöglich, dass Mary Clay nach diesem Sturz noch lebte. Unmöglich.
Schreiend wachte Marlene auf. Es war jetzt drei Wochen seit dem schrecklichen Ereignis in der Oper vergangen, und es raubte ihr immer noch ihren Schlaf. Als der Polizist bei den Seans gewesen war, wollte ihm Marlene von dem Schemen, welcher sie gesehen hatte, erzählen, doch sie kam nicht dazu, und mittlerweile glaubte sie auch, dass man sie als verrückt abstempeln würde, falls sie von ihrer Beobachtung erzählen würde. So wurde der Tod von Mary Clay als ihre Schuld angesehen. Sie sei verwirrt gewesen, und wusste nicht was sie tat, hiess es. Ken Clay, der Witwe und seine Tochter Marie, waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Marlene aber vergass den Schemen nie. Etwas konnte da nicht stimmen. So hatte sie wieder und wieder versucht, mit ihrer Mutter zu sprechen, doch ausser einem Murren, hatte sie bisher noch keine Antwort gekriegt. Nun war ihr Verhältnis so angespannt, dass, wenn immer Marlene ihrer Mutter begegnete, diese den Kopf abdrehte und sie ignorierte. Sie traute sich nicht ihren Vater zu fragen, aus Angst, er könne sie dann zum schweigen bringen, was eigentlich lächerlich war. Bei ihrem Bruder hatte sie es nicht wieder versucht, dazu hatte er das letzte Mal zu brüsk reagiert. Wer blieb da noch? Das war die Frage welche sich Marlene zu beantworten versuchte. Er, dabei, wurde immer übler gelaunt. Sie kam der Grenze immer näher, wo er sie nicht mehr würde dulden können. Marlenes Neugier war zu gefährlich.
Aila Sean sass am anderen Ende des langen Tisches und wartete darauf, das Marlene sich zum Frühstück setzen würde. Doch diese tat ihr den Gefallen nicht und blieb stehen. ,,Willst du dich nicht setzen?", fragte ihre Mutter Marlene ungeduldig. Verächtlich blickte diese in ihr Antlitz. Als sie noch hinzufügte ob sie beide heute Abend auf den Mutter- Tochterball gehen wollten, verlor Marlene die Fassung. Nach den Wochen des Schweigens bat sie um so was? Marlene schaute auf sie hinab und meinte ruhig, obwohl es in ihr vor Wut über ihre Mutter brodelte: ,,Natürlich nicht, was denkst du dir denn? Das ich mit einer griesgrämigen Frau mich blicken lasse, welche mich doch sonst ignoriert?" Entgeistert starrte Aria sie an. Ihre Tochter machte nach einem kurzen Augenkontakt eine Kehrtwendung und stolzierte hinaus. ,,Du wirst von Charles dein blaues Wunder erleben!" Erzürnt lief Marlene aus dem Speisezimmer, zog ihren Mantel über und stürmte alleine aus dem Haus. Ein paar hundert Meter weiter rief sie einer Kutsche und stieg ein. Erst als der Chauffeur vor "Elegant for people" hielt, bemerkte sie, dass sie kein Geld besass. Rasch kletterte sie aus der Kutsche, rannte, so schnell es es der Rock zuliess, die Eingangstreppe hinauf und durch das grosse Portal rein in das geheizte Gebäude. Dieser Streit mit ihrer Mutter war sonst gar nicht Marlenes Art. Vor allem weil sie so ausgerastet war, dass bereitete ihr Sorgen. Doch besser, sie kam ihrer Mutter zuvor und beichtete Charles selbst, als das Aria es tat. Elegant for people war das bisher so erfolgreiche Unternehmen ihres Vaters. Aber seit etwa einem Jahr steckte es in einer Krise. Die reichen Damen gingen ihre Abendkleider lieber in dem neuen Laden von Mister Brown kaufen. Darunter litt nun jetzt auch das Familienansehen. Langsam und schleichend, aber stetig mehr. In der grossen Eingangshalle ging sie zur Anmeldestelle, begrüsste den Zuständigen und erklärte ihm ihr Anliegen. Lächelnd meinte er, „Dein Vater ist noch gerade mit Mister Brown am verhandeln. Ich setze ihn aber über deine Ankunft in Kenntnis, und er wird dich dann oben in Empfang nehmen.“ Dankend ging Marlene zum Fahrstuhlgitter und klingelte dem „Fahrer“. Dieser kam sofort. Der junge Mann öffnete die Türen und Marlene trat sofort ein. Im Fahrstuhl stand schon der Herr Leonardo, ein angesehener Geschäftsmann. Beim Eintreten sagte Marlene dem Fahrstuhlfahrer die Stockwerk Nummer. Doch sie stolperte über den Saum ihres vornehmen, bestickten Kleides und fluchte ganz undamenhaft ,,Mist, drei, bitte!" doch der Chauffeur nahm das Schimpfwort kaum wahr. Als er nach unten fuhr, wurde ihr klar, dass er sie wohl falsch verstanden haben musste. „Du bist wohl unheimlich stolz auf deinen Vater, was?“ Erstaunt schaute Marlene Herr Leonardo an. „Stolz? Ja, ja natürlich...“, antwortete sie leise, aber Marlene fragte sich auf was er hinaus wollte. „Nun, ich kann dir mitteilen, das unsere Forschungen vorangehen. Bald haben wir es. Nicht mehr lange dann ist es soweit.“ Auch wenn Marlene keine Ahnung hatte, wovon er da eigentlich sprach, nickte sie zustimmend. Vielleicht eine neue Mode? Für „Elegant for people“? Sie hoffte es, denn sonst hatte sie wohl oder übel etwas verpasst, was sie kaum glauben konnte. ,,Bitte, die Dame, der Herr, wir haben ihr gewünschtes Stockwerk erreicht." ,,Oh, aber ich sagte doch..." Marlenes Stimme stockte. Seit wann gab es in dieser Fabrik ein Untergeschoss mit der Nummer drei?
Sie traute ihren Augen nicht. Auf den ersten Blick erkannte sie im Halbdunkeln einen Stuhl, auf welchem eine kleine Frau sass. Doch irgendetwas an ihrer Haltung war ungewöhnlich. Weiter hinten, verborgen auf der Schattenseite einer Öllaterne standen zwei Männer und hantierten an einem kleinen Tischchen. „Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.“ Marlene hatte Herr Leonardo ganz vergessen. Dieser trat nun in den Raum hinein, ging zur nächstgelegenen Türe um darin zu verschwinden. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ebenfalls auszusteigen, der Liftjunge wurde schon ungeduldig. Unbemerkt drückte Marlene sich an die Wand, sobald der Fahrstuhl ausser Sichtweite war. Die Männer hatten sie noch nicht bemerkt. Jetzt fiel es Marlene auch auf, was an der Haltung der Frau nicht normal war. Sie zeigte ein Abbild einer Person, welche jegliche Hoffnung aufgegeben hat. Dazu war sie an den Stuhl geschnürt, erst beim genaueren Hinsehen sah man die Scheuerstellen und das Blut an ihren Fuss- und Handgelenken. Voller Angst und mit wild pochendem Herzen kauerte Marlene in einer Raumecke. Es roch modrig, verfault und überhaupt war es alles andere als angenehm. Sie konnte nicht schon wieder nach oben zurückkehren, dass wäre zu auffällig gewesen, doch es war auch offensichtlich, dass sie dies hier nicht zu Gesicht bekommen sollte. Wenige Minuten später drehten sich die Männer zu der gefesselten Frau um, lösten ihr die Fesseln an den Händen und richteten sie grob auf. Im Zwielicht sah sie gerade noch das Aufblitzen eines Messers, dann schrie die Frau schon. „Wirst du uns jetzt gehorchen?“ fragte der eine zornig, während der andere etwas an das aufgeschürfte Handgelenk der Frau ansetzte. Mit Schrecken sah Marlene, dass es eine Spritze war. Der Mann infizierte sie mit der Flüssigkeit, welche wie Wasser aussah. Alles ging schnell und fast lautlos, sogar die Frau war verstummt. „Und jetzt“, fuhr der Mann fort, welcher vorhin schon gesprochen hatte, „erklärst du uns ganz genau, wie du dich fühlst.“ Die leichenblassen Lippen der Frau bebten, zuerst stammelte sie nur undeutliche Worte, doch schon nach einigen Anläufen klärten sich ihre Augen und die Stimme wurde klarer. „Müde. Ich bin so müde. Lasst mich schlafen.“ Und dann tickte die Frau aus, schrie und wehrte sich gegen die Fesseln. Sie biss und trat, so gut es ging, um sich. Das ganze dauerte Minuten. Doch Marlene hatte keine Chance zu fliehen, den einer der Männer war ihr zugewandt. Sie wunderte sich, dass diese Schreie in den oberen Stockwerken nicht zu hören waren, und das dies hier im Unternehmen von ihrem Vater geschah! Doch sogleich wurden ihre Gedanken abgelenkt. Die Schreie waren verstummt, doch der Anblick war raubte Marlene vor Schreck den Atem. Die Frau war tot, daran bestand kein Zweifel. „Ich glaube Charles wird sauer sein.“ bemerkte einer trocken, während er auf den blutüberströmten Körper starrte. „Ach was, eine Versuchsperson mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an.“ Antwortete der andere. Die beiden Scheusale hatten der Frau die Kehle durchgeschnitten. Marlene musste würgen, doch es kam nur Galle. Nun erhoben sich die zwei Typen und schleiften die Leiche in ein Nebenzimmer. Das war die Chance für Marlene! Sie stolperte zum Fahrstuhl und drückte voller Panik die Klingel. Zu ihrem Glück tauchte der Lift schnell auf und sie hastete hinein. So gut es ging, setzte Marlene eine gefasste Miene auf, niemand sollte ihr etwas anmerken, sollte nicht sehen das sie von all dem nichts gewusst hatte. Doch ihr war auch klar, dass sie so nicht unter die Augen ihres Vaters treten konnte. Deshalb eilte sie zur Rezeption, strich sich eine Strähne ihres wirren Haares aus den Augen, und teilte dem Rezeptionisten mit, dass sie unbedingt nach Hause müsste, und er ihrem Vater doch bitte ausrichten solle, dass sie ihn heute Abend zu sprechen wünsche. Dann ging sie eines angemessenen Schrittes hinaus, um dort die nächstbeste Kutsche zurück nach Hause zu nehmen. Erst in ihrem Zimmer dachte sie über das nach, was sie soeben gesehen hatte. Eine Frau war vor ihren Augen unter Todesqualen ermordet worden.. In der Fabrik ihres Vaters. Sie konnte es nicht fassen. Erst nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, wurde ihr klar, dass sie von dem Sinn des Gespräches, welches sie am Tag der Hochzeit belauscht hatte, sehr viel mehr begriff als noch vor zwei Stunden.
Es war für ihn keine Frage gewesen. Irgendwann hatte sie so viel in Erfahrung bringen müssen, bei ihrer Neugier. Es war Zeit sie zum Schweigen zu bringen.
„Vater, heute Mittag hatte ich einen Streit mit meiner Mutter“, begann Marlene zu berichten. Sie hatte eine dicke Schicht Rouge aufgetragen, damit ihre Wangen ein wenig Farbe bekamen, Charles und Aria wären sonst misstrauisch geworden, hätten gefragt was mit ihr nicht stimme. Sie hoffte, dass er nie erfahren würde, was sie gesehen hatte, er wäre sicherlich nicht begeistert davon. „Und ich habe mich töricht verhalten“, fuhr sie mit ihrer Beichte fort. „Weshalb ich mich nun entschuldigen möchte.“ Ihre Mutter nickte. „Ich vergebe dir. Sofern es nicht noch mal vorkommt.“ Nun ergriff auch ihr Vater das Wort. „Wir wollten sowieso mit dir sprechen. Wir ziehen eine Lebensschule für dich in Betracht.“ Stirnrunzelnd sah Marlene ihre Eltern an. „Zu welchem Zwecke?“ fragte sie schliesslich. Jetzt meldete sich Aria wieder zu Wort: „Dort wirst du lernen, dich wie eine feine Dame zu benehmen, und viel lernen, was dir in deinem Leben von Nutzen sein wird, sobald du eimal James geheiratet hast.“ Das war nicht ihr Ernst. Sie sollte weg von hier? Marlene blieb aber nichts anderes übrig als sich zu fügen. Ohne mit der Wimper zu zucken antwortete sie. „Wie ihr wollt, aber es ist nicht in meinem Sinne.“ Ausgerechnet jetzt, wo sie den schrecklichen Vorgängen auf der Spur war, musste sie weg von hier, aus ihrer vertrauten Umgebung. Dem einzigen Halt den sie noch besass. „Wir wollen nur, dass du glücklich bist.“ fügte Aria noch hinzu. Dann entliess Charles sie mit einem Nicken und den Worten: „Du wirst morgen abgeholt werden. Felicita wird dir deine Koffer packen und die Stallburschen deine Pferde verladen. Wenigstens ein Lichtblick... Sie "freute" sich gleich ein wenig.
Das Zugabteil war beinahe leer, als Marlene einstieg.