A/N: Inspiriert wurde dieser Oneshoot zum einen durch meine Arbeit in der Pflege, aber auch durch einen Werbespot eines deutschen Wohlfahrtverbandes.
Nehmen wir uns Zeit…
Dunkel war es im Treppenhaus, als die Männer mit dem länglichen Kasten die Treppe herunter kamen. Sie sprachen kein Wort, für die beiden war diese Art ihr tägliches Brot. Nur kurz blickten sie zu dem trüben Hochhaus zurück, in der sie ihre „Arbeit“ abgeholt hatten. Sie konnten damit umgehen, aber sie wussten auch, dass aller Anfang schwer war.
Aus einem stillen Respekt heraus, verneigten sich die beiden Männer vor dem Kasten. „Sie alle verdienen Respekt.“ Lautete ihr Arbeitscredo, nachdem sie sich zu halten hatten.
Sie schlossen den Kofferraum, bevor sie in den Wagen einstiegen und davon fuhren. Beobachtet von einem Mann an einem dunklen Fenster.
Seufzend wandte er sich um und blickte in die triste Wohnung. Sie wirkte so aufgeräumt wie viele Jahre zuvor, als er das letzte mal hier war. Da stand noch die Kaffeetasse, aus der er getrunken hatte, ein kleiner Rest der schwarzen Brühe schwamm noch in der Tasse.
„Vater…“ flüsterte er leise, als er die Tasse in die Hand nahm und diese zärtlich ansah. Es schien ihm wie gestern gewesen zu sein, als er ihm gegenüber saß und gemeinsam frühstückten. Wie jeden Samstag.
Wann waren sie auseinander gegangen? Und vor allem: warum? So viele Jahre hatten sie einander ignoriert, er war sogar in eine andere Stadt gezogen um Ruhe vor dem alten Mann zu haben…er hatte eine Familie gegründet und vergessen, dass es den alten Man gab.
Bis dieser eine Anruf kam. Hatte er ihn erwartet? Wenn er ehrlich zu sich sein sollte, dann wusste er es nicht so recht.
Die Tasse noch immer in der Hand haltend, wanderte er durch die düstere Wohnung. Die Erinnerungen an seine Kindheit kamen in ihm hoch. Da hing ein Bild. Er kannte es, denn er hatte es damals selbst geschossen. Er war so stolz auf dieses eine Geschenk gewesen, obgleich sein Vater es stets als „dummen Firlefanz“ abtat.
Er bemerkte den Schatten hinter sich und drehte sich um. „Claire, ich…“ er brauch mit tränenerstickter Stimme ab. „Der Arzt sagt, es war ein Herzstillstand.“ Erklärte sie leise und blickte ebenfalls auf das Bild.
Der Tannenbaum stand in voller Pracht, davor standen seine Eltern. Claire wusste noch, wie sie die ersten Anzeichen der Demenz bei ihrer Mutter feststellten. Die Schuhe in der Geschirrspülmaschine…sie hatte es als einen verrückten „Spleen“ abgetan, als sie es entdeckte und die Schuhe in den Schuhschrank zurückstellte.
Doch bei einem verrückten Spleen sollte es nicht bleiben. Immer mehr schämte sich Claire für das Verhalten ihrer Mutter, die scheinbar grundlos behauptete man habe ihr die Haustürschlüssel gestohlen und das Gerede der Nachbarn.
Sie erinnerte sich noch sehr gut, als sie sich im Streit trennten. Als Schwangere war sie zu ihrer Mutter gefahren um mit ihr über die weiblichen Themen zu reden. Aber es kam alles anders, als sie dachte. Ihre Mutter, die einst so freundliche Frau, betrachtete ihre Tochter als vollkommen Fremde. Es schien so, als würde die eigene Mutter Claire durch eine Art Glas sehen, aber was sah sie wirklich?
Den Tränen nahe war Claire wieder nach Hause gefahren, auch sie hatte den Kontakt abgebrochen.
„Mama…“ sie drückte liebevoll die zertretenen Schuhe an sich und bittere Tränen rannen der jungen Frau die Wangen hinunter. Doch die einst so herzensgute Frau lebte schon lange nicht mehr in der Wohnung. Nachbarn hatte sie gefunden, als sie reglos auf der Treppe lag. Seitdem wohnte die alte Frau in einem betreuten Wohnheim für Menschen mit Demenzerkrankung.
Aber er…sie blickte auf, als sie das Rascheln von Gardinen hörte und folgte ihrem Mann ins Wohnzimmer. Auch hier fielen ihr wieder die vielen Bilder auf. Bilder von ihrer längst verstorbenen Schwiegermutter und ihrem Schwiegervater. Die Kinder…wie klein sie noch waren…“11 Jahre.“ Claire blickte auf und folgte den Blicken ihres Mannes. „Martin und ich waren 11 Jahre, als das Bild gemacht wurde.“ Er sprach leise, fast so als wolle er die Zeit der Kindheit zurück drehen.
Peter Pan. Der Junge, der nie erwachsen werden wollte und sich doch nach einer Mutter sehnte. Ein Traum, der nie wieder kehren würde.
Auf leisen Sohlen schlich sie ins Schlafzimmer. Hatte er am Morgen noch über seine Gicht geschimpft? Die rehbraunen Augen Claires wanderten zum Bett. Schon vor vielen Jahren war ihre Schwiegermutter von dieser Welt gegangen, aber ihre Betthälfte trug noch immer Bettwäsche, so als wäre sie noch da.
Als würde sie jeden Moment herein kommen mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Wenn sie die Augen schloss, dann konnte sie ihre Mutter und ihre Schwiegermutter leibhaftig vor sich sehen. Wie sie beide über diverse Rezepte tratschten und über die Ehemänner lästerten…immer leiser wurden die Stimmen der beiden bis sie diese scheinbar nicht mehr hören konnte. „Mutti…warum bist du gegangen?“ fragte sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.
„Mama..?“ ein leichtes Zupfen an ihrem Mantel riss Claire aus ihren Gedanken. Amelié, ihre Tochter. Benannt nach dem zweiten Namen ihrer Mutter, Christin Amelié…Die 12 Jährige hielt ein Bild hoch, dass sie offensichtlich auf dem Speicher gefunden hatte. „Ist das Opa?“ fragte sie leise.
Sie ließ zu, dass Claire sie in den Arm nahm, während sie um den alten Mann weinte. Um den alten Mann, der in den letzten Tagen seines Lebens an seine Familie gedacht hatte. Der sich gewünscht hatte, seine Enkelin kennen zu lernen. Der nur wieder zu einer Familie gehören wollte und dessen lebloser Körper nun in einem schlichten Sarg auf dem Weg zu einem Krematorium war…