Thema: Clara - Am anderen Ende der Welt Fr Mai 15, 2009 3:22 am
Ok, ich weiß, ich hab mich echt lange nicht mehr blicken lassen... Ich wollte euch trotzdem mal eine Kostprobe meiner neusten Geschichte spendieren. Es geht um eine Familie, die im 19. Jahrhundert auswandern will. Zur Abwechslung spielen Pferde mal nicht die Hauptrolle!
Spoiler:
Nebelschwaden zogen durch die Häuserschluchten und die Dunkelheit hing noch über der Stadt. Clara legte sorgfältig ihr Sonntagskleid in die große Tasche und sah dann in Mutters kleinen, milchigen Spiegel, der oben auf lag. In dem reflektierenden Glas erblickte sie ein Mädchen mit zwei baumelnden geflochtenen Zöpfen, schmalen Lippen und ernsten, großen Augen. Sie war blass, der Staub in der Fabrik tat ihr nicht gut, aber Mutter hatte ihr versichert, dass sie auf dem Schiff Farbe bekommen würde. Noch immer trug sie das ausgeblichene, blaue Kleid, dessen Kragen schon leicht ausgefranst war. Ein Band der weißen Schürze war bereits gerissen und wiederzusammengeknotet, und die Löcher in ihren Kniestrümpfen waren nicht mehr an einer Hand abzählbar. Sie nahm den Korb mit dem wenigen Brot, ein paar Kartoffeln und einem halben Kopf Salat, den Mutter bereits für die Fahrt in die Niederlande gepackt hatte, und ergriff mit der anderen Hand ihr marineblaues Schultertuch. Dann folgte sie ihrem Vater, der die eine von zwei Reisetaschen soeben die Treppe hinunter wuchtete. Der Hof war leer. Die Arbeiter waren schon in die Fabriken verschwunden und die wenigen, die nicht dorthin mussten, hatten sich an den Herd oder den Waschzuber verzogen. Vor dem Haus wartete der Karren, Hermann stand wachend daneben wie eine Zinnfigur. Es ging ihm wieder besser; die Perspektive, bald ein Schiff zu betreten, belebte seine Geister. Clara hob den Korb vorsichtig auf den Wagen, und Großmama Elsbeth, die sich schon mit Ann-Sophie ein Plätzchen in der Ecke gesucht hatte, nahm ihn an. Dann half sie Clara hinauf. Die kühle Morgenluft zwang das Mädchen dazu, sich ihr Schultertuch umzulegen. Das rostbraune Pferd vor dem Wagen scharrte ungeduldig mit dem Huf und sein Geschirr klimperte, als es mit dem Kopf schlug. Rosel hieß die bereits etwas bejahrte Stute, so viel hatte der Händler Vater gesagt. Vater sicherte die Tasche sorgfältig mit einem Strick und ging dann hinein, um die Zweite zu holen. Kaum war er in der Öffnung zum Hof verschwunden, kam Mutter mit dem Arm voller Decken heraus. Sie packte diese noch auf die Reisetasche hinauf und erklomm dann selbst den Wagen. Mit der zweiten Reisetasche stieg nun auch Vater auf den Karren. „Das war alles!“, sagte er tonlos. „Das Zimmer ist leer.“ Clara kniff die Augen zusammen und versuchte, noch ein letztes Mal an das trostlose, aber irgendwie gemütliche Kämmerchen zu denken. Doch alles was sie sah war ein kahler, leerer Raum, in den kaum Licht kam. Die letzte Nacht hatten sie auf dem Boden geschlafen, da die Betten schon gestern mit einem geliehenen Karren ins Pfandhaus geschafft worden waren. Vater ergriff Rosels Zügel und klatschte ihr mit den Leinen einmal locker auf den Rücken. Die brave Stute schritt an und zog mit klappernden Hufen den Karren durch die engen Gassen des Arbeiterviertels. Clara versuchte, sich jeden Winkel noch einmal genau einzuprägen. Die Kutsche ratterte über das unebene Pflaster an den grauen Mietskasernen vorbei. Rauchwolken hingen über der Stadt und ein leichter, fauliger Gestank kroch in Claras Nase. Irgendwie habe ich es gehasst, hier zu leben, aber trotzdem weiß ich, dass ich es vermissen werde! Ging das überhaupt? Konnte ein Mensch etwas hassen und lieben zugleich? Nun, lieben vielleicht nicht direkt, aber sie war doch in Nürnberg geboren. Es war ihre Heimat, die sie jetzt nie wieder sehen würde! Immer näher kam der Karren dem Stadtrand, als Großmama plötzlich aufschrie. „Walther, dort, dort ist die Kirchgasse. Dort rechts!“ „Mutter, was willst du in der Kirchgasse? Wir wollen die Stadt doch auf dem schnellsten Wege verlassen, um heute so viel wie möglich zu schaffen!“ „Walther“, sagte Großmama mit einer leisen, traurigen Stimme, „in der Kirchgasse ist das Armenhaus.“ „Mutter, was willst du im Armenhaus!“, fragte Vater erschrocken. „Du willst doch nicht ernsthaft ein altes Weib wie mich mit aufs Schiff nehmen und dabei auch noch Geld zum Fenster hinauswerfen!? Nein, nein, so ein Schiff, das ist nichts für mich. Ich bin im Armenhaus besser aufgehoben!“ „Unsinn redest du da! Du hast mich doch erst dazu überredet, auszuwandern! Natürlich kommst du mit. Du gehörst doch zur Familie!“ „Aber ich werde doch sowieso bald…“ „Nein, nein, Mutter, versuche nicht, dich um die Schifffahrt zu drücken. Wir Schmieds halten zusammen, wir tragen dich notfalls vom Boot! Und wenn Ann-Sophie mithelfen muss!“ „Nun, ich hoffe das wird nicht nötig sein!“ Großmama hatte endgültig kleinbeigegeben und wiegte wieder Klein-Ann-Sophie in ihrem Arm. Vater ließ die Zügel auf Rosels Rücken klatschen und die Stute zog wieder an. Der Wagen rollte an der Kirchgasse vorbei und Clara unterdrückte den Drang, zurückzuschauen. Sie wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Großmama tatsächlich ins Armenhaus gegangen wäre. Die ganze Reise ohne Großmama, das konnte sich Clara nicht vorstellen. Dann hatte sie niemanden mehr zum reden, niemand mehr, der Zeit für sie hatte, wenn sich ihre Eltern nur um die Kleinen kümmerten. Ein Leben ohne Großmama wäre unvorstellbar! Rosel zog den kleinen Wagen zuverlässig gen Stadtrand. Langsam stieg die Sonne über die Dächer der Häuser. Zum ersten Mal war sie nicht von Wolkenfetzen verhangen. Hinter den Ausläufen der Großstadt erschienen jetzt die ersten Bäume. Die Straße verwandelte sich in einen Kiesweg und führte bald durch Felder und Wiesen. Clara sah sich um. Hinter ihr erhoben sich die hohen, grauen Häuserschluchten. Auf Wiedersehen, Nürnberg! Auf Wiedersehen! Rosel schnaubte. Eifrig stemmte sie sich in das Kummet. Ihr breiter, rotbrauner Rücken hob und senkte sich, auf und ab, auf und ab, auf und ab…