Thema: Patrizia - Buch ohne Genre So Apr 25, 2010 5:36 am
Hallo ihr, ich hab mal wieder einen neuen Text für euch. Es wird ein längerer Roman (z.Z. 40 Seiten ) und er handelt von einem Mädchen namens Aurelia, die das Tagebuch einer Grafentocher aus dem Kaiserreich findet... Mehr wird nicht verraten. Hier ist der Prolog:
Spoiler:
W
irklich ein Jammer mit dem Mädchen. Sie war immer so ein liebes Kind!“ Der aufgeschossene Knecht mit dem verwuschelten Haar schüttelte trübsinnig und bedauernd den Kopf, als er die bunte Truhe auf die Ladefläche des Karrens wuchtete. „Das kannst du laut sagen, Hans! Wenn du mich fragst hätte sie besser daran getan, den von Stettenwald zu heiraten! Wie hieß er doch gleich? Wolfgang?“ Der breitere der beiden Männer, ein stämmiger Herr in seinen Mittfünfzigern, stemmte seine unförmigen, großen Hände in die beleibten Hüften. „Wolfram!“, verbesserte ihn der Knecht und sicherte die Truhe sorgfältig. Der Stämmige kniff die Augen zusammen. „Warum bist du so sorgfältig? Das Zeug interessiert doch eh keinen mehr!“ Der Knecht kniff die Lippen zusammen und antwortete nicht. Stattdessen kletterte er das Treppchen hinauf zum Kutschbock. Der Mittfünfziger leistete ihm wenige Augenblicke später dort oben Gesellschaft, keuchend und schnaufend wie eine Lokomotive. „Unverständliche Meid, wirklich! Statt den von Stettenwald zu nehmen, der einen guten Ruf, gute Familie und genug Geld hat, rennt sie mit diesem Kleinkriminellen davon!“ Der Knecht erwiderte immer noch nichts. „Wahrscheinlich hatte sie ihre Gründe!“, presste er schließlich zwischen den Zähnen hervor, und versuchte, ein unbekümmertes Gesicht zu machen, um sich nicht zu verraten. „Wirklich die Höhe, dass der Kleinkriminelle jetzt auch noch verlangt, dass ihre Güter zum Stadtsitz seiner Familie gebracht werden sollen! Wenn du mich fragst, man hätte sie verbrennen sollen. Ich kann nicht glauben, dass Graf von Eschbach das einfach so durchgehen lässt!“, plauderte der untersetzte Hutträger. Der Knecht schwieg noch immer und konzentrierte seinen Blick auf die sich vor ihm auf und absenkenden Rücken der kräftigen Pferde. Mit ruhiger Hand lenkte er sie durch das Getümmel der Allee, durch ein paar weitere, gepflasterte Straßen und hielt sie schließlich vor einem großen, weißen Gebäude an. „Das Herrenhaus der Gauner sieht aber nicht schlecht aus!“, gab der redseligere der Männer zu und nahm sich seinen Filzhut vom Kopf, um sich auf der mit dieser Gestik entblößten Halbglatze zu kratzen. Er strich sich noch einmal über den sorgfältig gezwirbelten Schnurrbart, dann stieg er von der Kutsche. Der Knecht folgte ihm und hob dann die Truhe vom Wagen, nachdem er sie von den sichernden Strippen losgebunden hatte. Mit übertriebener Sorgfalt stellte er sie auf dem unebenen Bürgersteig ab. „Mach‘ schon, ich muss flink wieder zurück! Kann eh nicht verstehen, warum der Graf dich nicht alleine schicken konnte…“ Wieder fuhr der Glatzkopf sich über seine nicht vorhandene Haarpracht. Murrend hob der Knecht die schwere Truhe an und schaffte sie alleine den steinernen Pfad hoch zum Herrenhaus. Sein Begleiter nahm mit erhabener Geste den Klopfring in die Hand, ein goldener, im Maul eines Löwen gehalten. Das Pochen erschütterte die mittägliche Ruhe, die das weiße Herrenhaus umgab. Ein Hausmädchen öffnete die Tür. „Guten Tag!“, grüßte sie mit einem leichten französischen Akzent. „Was wünschen die Herren?“ Ehe der Knecht etwas antworten konnte, drängte sich der Glatzkopf vor ihn. „Wir bringen eine Lieferung. Für den Herrn Florentin persönlich!“ Das Hausmädchen hob die Augenbrauen. „Es tut mir leid, Herr Florentin ist zurzeit außer Haus!“ „Das wissen wir! Aber wir müssen die Lieferung auf jeden Fall abliefern! Es handelt sich um eine Truhe von…“ Noch ehe der Mann ausgesprochen hatte, änderten sich die Gesichtszüge des Mädchens. Waren sie vorher streng und abweisend, so wirkten sie jetzt aufgewühlt und scheinbar ein wenig melancholisch. „Oh. Ja. Ich weiß. Stellen sie sie ruhig hier hinein. Ich werden den Hausherren sofort informieren!“ „Vielen Dank. Ich denke, er wird wissen, was der Inhalt ist!“ Das Hausmädchen sah bestürzt aus. „Ja!“, hauchte sie schließlich. „Ja, das wird er!“ Die beiden Männer kehrten zurück zum Karren, der eine zufrieden, diesen heiklen Auftrag erledigt zu haben, der andere niedergeschlagen und in sich gekehrt. Als sie schon längst wieder davongefahren waren, spürte man einen leichten Windhauch am schmiedeeisernen Tor zum Herrenhaus, und ein unsichtbarer Schatten huschte in die Gärten, ungesehen, und doch anwesend.
Das Buch ist übrigens aus der Ich-Perspektive geschrieben, nur der Prolog nicht! Freue mich über Kommis!
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre So Apr 25, 2010 5:43 am
Gut geschrieben und gerade so das Ende (vom Prolog) gefunden, dass man nun unbedingt weiterlesen will
Nur eine Frage: In welcher Zeit spielt der Roman? Ich kann das grad gar nicht zuordnen, dachte erst an gemäßigtes Fantasy, aber dann kam der "Lokomotiven-Schnaufer" und ich fühlte mich spontan in eine Steampunk-Welt versetzt, von der aus das Gelesene dann über die Zeilen und den französischen Akzent hinweg zurück zu einem (beinahe) historischen Roman mutierte.
Lou Teenager
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Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre So Apr 25, 2010 5:56 am
Hi, Gefällt mir ganz gut. aber ich muss Elvedina bei der Frage beipflichten.. Beispielsweise bei: „Warum bist du so sorgfältig? Das Zeug interessiert doch eh keinen mehr!“
Ich meine, das kann man so schreiben, hört sich aber komisch an. Weil "sorgfältig" nicht so zu dem gedachten Wortschatz passt..^^ lg
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre So Apr 25, 2010 6:51 am
Danke für eure Kommis! Das Buch spielt teilweise im deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende, um genauer zu sein hauptsächlich im Jahre 1895. Tatsächlich ist es 'gemäßigtes' Fantasy ( wenn das heißen soll, dass es nicht 100% realistisch ist, aber auch keine Drachen, Elfen, usw. vorkommen ). @ Lou: Vielleicht sollte ich das 'eh' wegmachen, oder?
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Apr 28, 2010 6:29 am
Wollt ihr noch einen Abschnitt aus der Mitte lesen? Ach ja, ich brauche auch noch einen Namen für einen der Bösen ( männlich, ca. 50 ). Es kann ruhig ein alter Name sein, also, supermodern sollte er nicht sein... Was haltet ihr von Mortimer? Bin für alle Vorschläge offen!
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Apr 28, 2010 7:37 am
Mortimer ist nicht mein Geschmack - aber kommt halt auf den Charakter an. Für mich steckt hinter dem Namen ein schmächtiger, gutmütiger und leicht dümmlicher älterer Mann mit Monokel und nur noch teilweise vorhandenem grauem Haar *g*
Auf dieser Seite gibt es einige Namen, die in dein Schema passen könnten
Und ja, ich würde sehr gerne noch einen Ausschnit lesen
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Apr 28, 2010 9:10 am
@Elvedina: Danke für den Link! Ich bin alle Namen durchgegangen, leider habe ich nicht den Knaller gefunden, aber ich werde bestimmt noch fündig. Mortimer passt nämlich tatsächlich nicht wirklich auf den Charakter.
Also, da es noch keinen Teil gibt, der besonders aussagend über das Buch ist, stelle ich einfach mal ein paar Schnipsel rein:
Anfang des 1. Kapitels ( Erkundungstour )
Spoiler:
Als ich die Augen aufschlug, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Die Decke über mir war grau und fleckig, die Tapete an den Wänden des kleinen Zimmers – blassgelb mit himmelblauen Veilchen – löste sich am oberen Ende bereits. Sie war ausgeblichen und verfärbte sich langsam braun. Auf dem Mahagoninachttisch neben mir tickte etwas mit der Lautstärke eines Presslufthammers. Ich wälzte mich herum. Jetzt wusste ich wieder, wo ich mich befand – im Giebelzimmer des Hauses meiner Großeltern, auf einem quietschenden Bettgestell. Seufzend schloss ich die Augen. Im alten Apfelbaum vor dem Fenster zwitscherte ein Vogel. Durch die Vorhänge vor dem Erkerfenster drang genug Sonnenlicht, um mich zu blenden. Ich wendete meinen Kopf, um auf die Uhr zu schauen, die auf dem Nachttisch stand und etwa so alt wie meine Großmutter sein musste. Viertel vor neun. Eigentlich hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Die Sommerferien hatten gerade erst angefangen, das Wetter war herrlich und ich hatte ganze sechs Wochen, um zu faulenzen und mich von der Schule zu erholen. Da meine Eltern geschieden waren und beide arbeiteten, hatte meine Mutter mich wie üblich bei meinen Großeltern in Berlin ‚geparkt‘, wo ich die ganzen Ferien verbringen sollte. Ich weder etwas gegen meine Großmutter Annegret, noch gegen meinen Großvater Karl-Josef, aber die Aussicht darauf, sechs Wochen bei ihnen zu verbringen, machte mich nicht gerade froh. Immerhin war ich schon sechszehn und dachte langsam an andere Dinge. Der Alltag der zwei alten Leute war schrecklich eintönig und bot wenig Abwechslung. Ich wälzte mich noch einmal im Bett herum und entlockte dem Gestell dabei einen hellen, trommelfellzerschneidenden Ton, dann beschloss ich, dass ich wohl nicht mehr einschlafen konnte. Ich wühlte mich aus der Daunendecke und setzte mich verschlafen auf die Kante, wobei das Bett wieder ächzte. Seit ich klein war, hatte ich dieses Zimmer in den Sommerferien bewohnt. Ich kannte jeden Winkel und mittlerweile war es mir auch ans Herz gewachsen. Es besaß große Fenster, die den kleinen Raum mit Helligkeit überfluteten, und in einer Ecke hatte es einen kleinen Erker. Vor zwei Sommern hatten Opa und ich dort eine kleine Sitzecke eingebaut. Die Kissenbezüge hatte Oma selbst genäht und auch jetzt lagen die Kissen frischgewaschen auf dem Holzgestell, dass wir mit Schaumstoffpolster, eingewickelt in weitere Bezüge mit Blümchenmuster, überzogen hatten. Unter einem der Fenster stand ein kleiner Schreibtisch aus massivem Holz. Sehr vorrausschauend hatte mir jemand – wahrscheinlich Oma – einen Stapel Papier zurechtgelegt, den ich zum Zeichnen benutzen würde. Im Erkerzimmer gab es außerdem einen großen Schrank, in dem ich mich früher manchmal versteckt hatte, und eine Kommode, auf deren Oberfläche Silberrahmen mit vergilbten Familienfotos standen. Neben dem alten Bett aus Zinnstreben – das im Übrigen gemütlicher ist als es sich anhört - stand der besagte Nachttisch mit dem Wecker, einer altmodischen Schirmlampe und einer uralten, verstaubten Ausgabe von Stolz und Vorurteil. Meine Füße hatten endlich die Hausschuhe gefunden – ein relativ wichtiges Kleidungsstück in einem Haus, in dem es Ecken gab, wo sich seit zwanzig Jahren niemand mehr mit dem Staubsauger hingewagt hatte – und ich stand auf. Unten würde mich mit höchster Wahrscheinlichkeit ein gewaltiges Frühstück erwarten. Tatsächlich erwarteten mich Oma und Opa schon am Frühstückstisch, der reichlich gedeckt in ihrem kleinen Wintergarten stand. Ich schob die Blätter einer Zimmerpalme zur Seite und setzte mich in einen der Korbstühle. „Guten Morgen, mein Schätzchen. Möchtest du Kaffee?“, fragte mich Oma mit ihrer kratzigen, aber hellen Stimme. Ich seufzte. „Lieber einen Kakao!“ Sie hoffte wohl immer noch, ich würde Gefallen an ihrem Kaffee finden, den sie mir bereits seit drei Jahren täglich anbot. Aber erstens konnte ich Kaffee nicht ausstehen und zweitens würde ihre Giftbrühe an ersterer Tatsache mit Sicherheit nichts ändern. Mama beschwerte sich immer, dass das Zeug schmeckte wie „Wasser aus dem Nil mit ein paar rohen Kaffeebohnen“, wobei sie das nicht wissen konnte, denn sie war noch nie am Nil gewesen.
Anfang des 7. Kapitels ( Erkenntnis ) --> Was bisher geschah: Aurelia findet auf dem Dachboden ihrer Großeltern das Tagebuch von Patrizia von Eschbach, einer jungen Gräfin, die anno 1895 ihre Memoiren verfasste. Da sie gefesselt von diesen Anekdoten mehr über das Mädchen erfahren will, hat sie auf den Dachboden noch einmal gesucht und dabei ein Klavierstück und ein altes Foto gefunden, auf dem scheinbar sie selbst in einem altmodischen Kleid abgebildet ist.
Spoiler:
Ohne es zu merken, war ich an der Hängematte angekommen. Dankbar ließ ich mich hinein plumpsen, fühlte zufrieden, wie der robuste Stoff mein Gewicht abfing und federte. Ich schloss die Augen und hörte dem Vogel zu, der über mir im Blätterdach des knorrigen Apfelbaums zwitscherte. Die leichte Brise wehte mir willkommene, kühle Luft ins Gesicht und ließ mich für einen Moment tatsächlich alles vergessen. Dann stürzten die Fragen wieder auf mich ein. Wie hing Patrizia verdammt noch mal mit unserer Familie – und unserem Dachboden – zusammen? Hatte sie irgendetwas mit Florentin zu tun? Was genau war mit Florentin geschehen? Er konnte ja nicht einfach verschwunden sein! Vor allem aber: Wieso war ich diejenige, die auf all diese ungelösten Rätsel stieß? Vielleicht war ich dazu bestimmt worden, per Zufall, aber warum half mir der Zufall dann nicht, sie zu lösen, sondern warf nur weitere Fragen auf? Ich steckte fest, konnte nicht vor und nicht zurück. Nicht vor, weil ich nichts fand, was mir auch nur einen weiteren, ausschlaggebenden Anhaltspunkt geschenkt hätte. Nicht zurück, weil ich schon zu sehr von Patrizias Schicksal gefangen war. Es war plötzlich mein innigster Wunsch, etwas über sie herauszufinden? Warum eigentlich? Sie war schließlich auch nur ein ganz normales Mädchen, oder? Oder. Ich konnte mir auf einmal nicht mehr so ganz sicher sein. Patrizia hatte mit Sicherheit keine magischen Kräfte oder so. Aber sie war auch kein stinknormales Mädchen. Zumindest nicht für mich. Denn für mich war sie so etwas wie eine Zwillingsschwester, die hundert Jahre vor mir gelebt hatte. Und das war gruselig! Ich dachte an das Foto. Das war ich gewesen, es waren mein Gesicht, meine Haare, meine Figur, und meine Augen. Mein Blick. Aber es war nicht meine Zeit gewesen. Das Bild alt, sehr alt. Hundert Jahre alt vielleicht? Stammte es tatsächlich aus dem Jahre 1895, oder aus den Jahren davor oder danach? Ich würde es nie sicher wissen, aber wenn es so war, dann glich mir Patrizia wie ein Ei dem anderen, und zwar innen wie außen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich das gruselig fand? Es gab genau drei Möglichkeiten: Entweder, dass Bild zeigte jemanden mir völlig fremdes, oder es zeigte mich, oder es zeigte Patrizia. Mehr Möglichkeiten gab es nicht. Basta. Oder vielleicht doch? Was, wenn es mich und Patrizia abbildete? Das war rein physikalisch zwar unmöglich, aber was, wenn doch? Hatte ich womöglich eine Persönlichkeitsstörung, zwei Ichs oder so etwas Ähnliches? Gehörte ich nicht eigentlich in psychiatrische Behandlung? Das musste wohl der Fall sein, wenn ich jetzt schon glaubte, zwei Personen gleichzeitig zu sein. Andererseits… der Gedanke war gar nicht so abwegig. Natürlich war es vollkommen absurd, zu glauben, ich würde Patrizia und Aurelia gleichzeitig heißen, aber wir teilten nun einmal sehr viele Merkmale. Zu viele. Um nicht zu sagen, alle. Tatsache: Patrizia hatte mehr als hundert Jahre vor mir gelebt. Tatsache: Sie war schon längst tot. Und Tatsache: Wir waren völlig identisch. Konnte es vielleicht sein, dass wir eine komplett übereinstimmende DNA hatten? Gab es so etwas? Eineiige Zwillinge hatten das gleiche Erbgut, aber wir konnten ja wohl unmöglich Zwillinge sein! Wenn wir keine Zwillinge waren, waren wir dann vielleicht Seelenverwandte? Teilten wir vielleicht einfach die gleiche Sichtweise? Kam unser Aussehen vielleicht nur durch Zufall? Aber solche Zufälle gab es nicht. Nicht in meinem Leben, in dem es nur Zufall war, ob der Bus zur Schule drei oder fünf Minuten zu spät kam und das Mittagsessen in der Schulkantine genießbar war oder nicht. Große Zufälle von noch größerer Bedeutung gab es nicht. Und wenn, dann war definitiv nicht ich diejenige, die sie entdeckte. Und wenn es kein Zufall war, sondern Schicksal? War ich vom Anfang meines Lebens an dazu bestimmt gewesen, meine Seelenverwandte auf dem Dachboden meiner Großeltern zu finden? Es gab bestimmt nicht viele Leute, die ihrem Seelenverwandten einfach so begegneten. Ich seufzte und schlug die Augen auf, um mich wieder in das normale Leben zurück zu katapultieren.
Anfang des 9. Kapitels ( Begegnung ) ---> Hinweis: dieser Abschnitt wird nicht aus Aurelias Perspektive erzählt.
Spoiler:
D Das Licht drang durch die schweren Vorhänge und kitzelte meine Lider. Es musste bereits heller Morgen sein. Zu gerne wäre ich einfach in meinem Bett geblieben, wäre für immer in den weichen Daunen versunken und hätte die Probleme, die der Tag bringen würde vergessen. Aber das war zu meinem Leidwesen unmöglich. Ich schlug die Augen auf und wurde zunächst einmal geblendet. Die Sonne schien hell durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Ich setzte mich verschlafen auf und rieb mir die Augen. Am liebsten wäre ich im Bett geblieben, um dem kommenden Dilemma zu entgehen, aber das hätte nur noch mehr Ärger bedeutet. Als ich die Fäuste wieder von meinen Augen nahm, erstarrte ich. An der Fensterbank lehnte jemand. Eine schmale Person, vielleicht so groß wie ich. Ich konnte nichts weiter als ihre Umrisse gegen das Sonnenlicht erkennen. Es war nicht Agnes, so viel wusste ich sicher. Agnes war zwar fast genauso groß wie ich, aber um einiges breiter, und ihre krause Haartolle hätte ich auch sofort erkannt. Außerdem wagte es Agnes längst nicht, unangekündigt in mein Zimmer einzudringen. Klopfen war absolute Pflicht. Das hatte dieser unwissende Eindringling offenbar ignoriert. Ich bekam es mit der Angst zu tun. „Wer sind Sie!?“, fragte ich, und ärgerte mich prompt darüber, dass meine Stimme versagte und ich die Wörter kaum hörbar heraus krächzte. Die Figur zuckte zusammen, als hätte ich sie aus einem merkwürdigen Traum herausgeholt. Die um die Fensterbank verkrampften Finger lösten sich vorsichtig und der Mensch machte einen Schritt auf mich zu. Ich begann, stoßartig zu atmen und drückte meinen Rücken gegen die Streben des Bettes hinter mir. Kalter Schweiß rann mir den Nacken hinab und durchnässte mein Nachthemd im Nu. Wenn es keine Katastrophe geben sollte, musste sich einer von uns in Luft auflösen – am besten der Fremde. Die Person war jetzt aus dem Sonnenlicht herausgetreten. Die langen, glatten Haare schimmerten leicht rötlich – wie meine eigenen. Obwohl ich dem Blick des Anderen auf keinen Fall begegnen wollte, konnte ich meine Neugier nicht unterdrücken. Ich wagte ein kurzes Aufblicken, um wenigstens einmal das Gesicht des Fremden erkennen zu können. Bei einem kurzen Schielen blieb es nicht. Ich war wie gefesselt von dem Anblick, der sich mir bot. Das Mädchen, das vor mir stand, war mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Alles stimmte – die großen, verschreckten Augen, die in einem merkwürdigen Grünton schillerten, die von Sommersprossen umgebene Nase, der schmale, ziemlich rote Mund mit den leicht schiefen Mundwinkeln, die jetzt in Erstaunen, Schock und positiver Überraschung leicht nach oben gezogen wurden. Sogar die Haarfarbe stimmte: Wir waren beide dunkelblond und trugen einen seltsamen Glanz, teils golden, teils rötlich zur Schau. „Wer bist…sind Sie?“, fragte ich noch einmal, diesmal mit festerer Stimme, obwohl mein gesamter Körper zitterte.
Ich weiß, dass die Abschnitte teilweise etwas unlogisch erscheinen, dies kommt dadurch, dass große Teile ausgelassen wurden. Auf den ersten 50 Seiten ist es auch noch nicht so besonders Fantasy-mäßig, das kommt im zweiten Teil, dessen Auftakt der unterste Abschnitt ist. Viel Spaß beim Lesen! Ich hoffe sehr auf Kommis!
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Apr 28, 2010 11:20 pm
Ein Zeitensprung, stimmt's? Nun, diesmal glaube ich zumindest zu wissen, dass der erste Ausschnitt (und der zweite) in der Gegenwart spielen *g*
Die ersten beiden Ausschnitte finde ich etwas langweilig. Es sind lange Einleitungen, Erklärungen und Gedanken - nicht schlecht geschrieben, aber dabei bin ich etwas eigen. Alles, was länger als drei Zeilen ist, wird übersprungen. Aber es sind natürlich nur Ausschnitte, da fehlt vermutlich auch die Spannung, die sich davor bereits aufgebaut haben könnte. Ausschnitt Nr. 3 wird schon wieder spannender. Auch wenn ich, zugegeben, die ersten Momente gehoffte hatte, dass sich hinter dem unbekannten Schemen eine männliche Person verbergen würde Außerdem fällt mir beim letzten Ausschnitt auf, dass Patrizia.. äh.. ich meine, die Ich-Person... sehr schnell zu Schweißausbrüchen neigt. Im einen Moment ist sie noch erschrocken, im nächsten rinnen ihr Bäche von Angstschweiß über den Rücken - übertrieben ausgedrückt, aber so in etwa kam es für mich rüber.
Also, was mir beim Lesen leider ein wenig fehlt sind die spannenden Teile, die du offenbar gemeinerweise unterschlägst *g*
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 4:39 am
Das Problem ist, dass die spannenden Teile zu viel verraten... Leider lebt das Buch von der Spannung, die erstmal ein bisschen aufgebaut wird, deshalb ist ein Ausschnitt an sich nicht gerade sehr aussagekräftig. Am Anfang denkt Aurelia auch noch sehr viel nach ( 2. Ausschnitt ), das gibt sich dann im zweiten Teil. Das mit den Schweißausbrüchen ist mir nicht aufgefallen...Vielleicht, weil ich selbst ein Angshase bin und es so ganz und gar nicht lustig fände, wenn plötzlich eine fremde Person in meinem Zimmer stünde...Mal sehen, vielleicht ändere ich das noch. Komisch, als ich den 3. Abschnitt geschrieben habe, musste ich auch ständig an eine männliche Person denken. Aber die Geschichte wäre leider kompletter Schwachsinn, wenn es eine männliche Person wäre... Auf jeden Fall danke, Elvedina, für dein konstuktives Feedback. Einen Abschnitt gebe ich euch noch, nicht der spannendste, aber einer der stärkeren. er stammt aus Kapitel 5 ( Nächtliche Suche ) und wird aus Aurelias Perspektive erzählt.
Spoiler:
Ich versuchte gerade, mich davon zu überzeugen, ich hätte bereits alles gesehen, was es zu sehen gab – dessen war ich überzeugt – und meine Beine dazu zu bewegen, sich auf den Weg ins warme, gemütliche Bett zu machen, da schlossen sich meine Finger um etwas kantiges, hartes. Glatt und kühl lag ein flacher Gegenstand in meiner Hand, von meinem Blick geschützt durch die schweren Stoffe der altertümlichen Kleider. Behutsam zog ich das Ding durch das Meer aus blauer Wolle in mein Sichtfeld. Was ich in der Hand hielt, was eine lederne Mappe, deren Deckel von einer Schleife aus schwarzem Band zusammengehalten wurden. Neugierig löste ich die Schleife, fast schon enttäuscht, dass es nicht wieder ein Schloss zu öffnen gab. In der Mappe lagen ein paar lose, vergilbte Blätter mit verblichenem Bleistiftgekritzel darauf. Die spitzen, hastigen Striche glichen in keinster Weise Patrizias runder, flacher Schrift. Ich blätterte den Stapel durch, doch alle Papiere waren mit der selben Handschrift versehen. Obgleich ich nun jede Hoffnung verloren hatte, noch mehr über Patrizia zu erfahren, fühlte ich mich seltsam erregt durch die Fragen, die mir diese fremde Feder aufwarf. Zwischen den bekritzelten Zetteln fand ich jedoch plötzlich ein sauber bedrucktes Blatt, ein Klavierstück, das offenbar aus einem Buch gerissen worden war. Schumanns Kinderszenen. Ein leichtes und unbeschwertes Stück. Ich lächelte flüchtig und ließ es dann wieder in den Stapel gleiten. Wirklich weiterhelfen tat es mir nicht. Gerade wollte ich die Mappe wieder zuklappen, vielleicht, um sie mit nach unten zu nehmen, da viel etwas Kleines in meinen Schoss. Ich tastete herum und fuhr plötzlich mit dem Finger über eine scharfe Kante. Nervös auf meinen Lippen herumbeißend betrachtete ich meinen Fang. Es war eine alte Fotografie, auf festem Hochglanzpapier gedruckt. Ich konnte im düsteren Licht nicht genau erkennen, was darauf abgebildet war, jedoch ähnelte die schemenhafte Silhouette stark der eines Menschen, schmal wie sie war, war es vielleicht tatsächlich ein Mädchen. Ich konnte nicht sicher sein, denn die Taschenlampe flackerte verräterisch und dann erlosch der mir Sicherheit gebende Kegel plötzlich mit einem Zischen. Erschrocken verkrampften sich meine Finger um die Mappe. Mit einem Mal hatte ich jegliche Orientierung verloren. Unbalanciert erhob ich mich und überprüfte mit meiner Hand, ob ich Gefahr lief, mir irgendwo den Kopf zu stoßen. Dem war nicht so. Als ich sicher auf meinen Füßen stand, begab ich mich tastend auf den Weg zur Treppe, oder jedenfalls in die Richtung, in der ich sie vermutete. Meine Fingerspitzen berührten die staubige Oberfläche des Möchtegern-Klaviers und ich benutzte den Holzkasten als Geländer. Erst, als ich einen winzigen Lichtstrahl von der unteren Tür hinauffallen sah, bemerkte ich, dass ich noch immer Foto und Mappe in meinen Händen hielt. Ich zuckte mit den Schultern, eine völlig sinnlose Geste, denn hier war niemand, dem ich damit etwas vermitteln konnte. Zögernd prüfte ich, ob die Öffnung im Boden wirklich in eine morsche Treppenstufe mündete, doch ich täuschte mich nicht und spürte das raue, aber gleichzeitig bereits abgelaufene Holz sicher unter meinen Füßen. Wie ein Magnet zog mich das schemenhafte Licht an, ich wollte die Treppe hinunter in die Zivilisation zurück. Dies bewegte mich dazu, meine Schritte hastiger zu setzen. Einmal stolperte ich leicht und hätte fast den Halt verloren, aber endlich fühlte ich den kühlen, staubigen Griff der Silberklinke in meiner Hand. Ich atmete erstmal tief ein, als ich wieder den Boden des zweiten Stockes unter mir hatte. Dann huschte ich die Treppe hinunter. Fast hätte ich vergessen, den Schlüssel an seinen Platz zurückzubringen, doch ich erinnerte mich noch rechtzeitig daran. Es war ein Kinderspiel, ihn trotz nächtlicher Dunkelheit zurück an den Haken zu hängen, zumindest nach dem Dilemma auf dem Dachboden. Als ich endlich sicher zurück in meinen Zimmer war, fühlte ich mich ausgelaugt wie von einem großen Abenteuer. Dabei hatte ich gerade einmal dem Dachboden einen kleinen Besuch abgestattet. Ich hätte diese Stippvisite wohl auch bei Tageslicht erledigen können, aber ich wollte vorerst vermeiden meine Großeltern einzuweihen. Patrizia war mein Geheimnis, ich wollte mehr über sie herausfinden. Und doch wusste ich nichts über dieses Haus. Ich wusste nichts über die Braunings der vorherigen Generationen, nichts über Stand, Ansehen und Berufe der Familie während der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Kurz um: Ich war aufgeschmissen ohne das Wissen meiner Großeltern. Das kühle Leder in meiner Hand erinnerte mich wieder daran, dass ich die Möglichkeit hatte, jetzt ein Quäntchen – oder auch ein bisschen mehr – über Patrizia zu erfahren. Ich öffnete sie abermals und inspizierte die Blätter unter dem gleißenden Licht der Schreibtischlampe. Überrascht hielt ich inne. Es waren alles Noten. Noten, geschrieben offenbar für ein Klavier, denn die Melodie war zweistimmig. Vieles war durchgestrichen, die blassen Tintenstriche verwüstet durch Flecken, Wassertropfen und Knicke. Das gedruckte Stück von Schumann war noch leserlich, nicht aber die selbstgeschriebenen. Dass sie selbst geschrieben waren, vermutete ich aufgrund der feinen Tintenmuster auf schief gezogenen Linienmustern. Fast unkenntlich waren die Notenköpfe manchmal, die Notenschlüssel seltsam verzerrt und eckig. Ich holte erstaunt Luft, als ich merkte, was das bedeutete. Das hier war keine Handschrift, sondern mit Hand geschriebene Musik. Diese Tatsache ließ die Hoffnung wieder aufkeimen. Wenn es sich bei den abgebildeten Mustern nicht um Wörter und Buchstaben handelte, war es gut möglich, dass Patrizia das Stück verfasst hatte. Es war nicht nur möglich, es war sogar wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich. Auf einmal konnte ich es nicht mehr abwarten, meine unbegabten Finger auf die Elfenbeintasten des armen, antiken Klaviers im Salon loszulassen und die Melodie zu testen. Das jedoch würde bis morgen warten müssen, wenn die Nachbarschaft nicht Gefahr lief, von meinem Spiel aus dem Bett geworfen zu werden. Ich besah mir die Noten noch einmal genau und entdeckte eine ausgeblichene Überschrift in Patrizias ordentlicher, flacher Handschrift, die meinen Verdacht bestätigte. Patrizia hatte das Lied geschrieben und Sehnsucht genannt. Dieses Wort jedenfalls stand über der Ansammlung von Strichen und Punkten. Sehnsucht – ob Patrizia damit wohl etwas verarbeitet hatte, ihre eigenen Sorgen und Nöte, das schlechte Verhältnis zu ihrem Vater oder die drohende Hochzeit mit Wolfram? Stammte die Musik wohl noch aus der Zeit des Tagebuchs, oder war sie erst später verfasst worden? Das waren alles Fragen, die ich nie beantworten können würde. Denn ganz gleich, wie viel mir Oma über Patrizia und ihre Familie eventuell erzählen konnte – und wahrscheinlich konnte sie noch nicht mal das, denn unsere Familie hieß Brauning und nicht von Eschbach, und deshalb hatten wir vermutlich rein gentechnisch nichts mit Patrizias Familie zu tun – ich würde immer nur oberflächliche Details erfahren. Nie würde ich jedoch eindringen in Patrizias Beweggründe, ihre Gedanken, ihr Leben. Alles, was ich hatte, war ihr verrottetes Tagebuch. Und das musste mir genügen. Ein Indiz hatte ich noch, einen Hoffnungsschimmer, mit dem ich hoffte, meine Neugierde endgültig befriedigen zu können – das Foto. Ich zog es hervor und hielt es ans Licht. Fast fürchtete ich, darauf zu blicken, teils, weil ich Angst davor hatte, wirklich etwas Wichtiges offenzulegen, teils, weil ich mich auf eine Enttäuschung vorbereiten musste. Es war nur ein Foto, mehr nicht. Und dann wurden meine Augen gefangen von diesem Bild, und ich sah die Person, die darauf abgebildet war.
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 5:07 am
*g* ok, ich merke, ich bin abgestumpft... jetzt weiß ich auch, warum meine Hauptcharaktere immer so pragmatisch sind *lach*
Interessant finde ich die Ausschnitte deiner Geschichte auf jeden Fall. Spannend weniger, nur stellenweise (Prolog und die fremde Person im Zimmer) - aber das ist ja Absicht von dir
Von welchem Schlag ist denn der Bösewicht? Mehr so der "Hau-drauf"-Typ oder eher der intelligente? Danach könnte ich nochmal nach 'nem Namen stöbern...
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 6:17 am
Der Bösewicht ist ziemlich intelligent und clever. Mir ist jetzt noch der Name 'Maurice' eingefallen, der trifft glaube ich ganz gut zu. Aber wenn du einen besseren Vorschlag hast, nur zu! Übrigens: was genau meinst du mit abgestumpft?
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 6:36 am
Welcher Name letztlich am Besten passt, kannst nur du sagen
Spontane Einfälle: Constantin Cedric
Aber Maurice hört sich auch nett an.
Von wegen abgestumpft: Ich betreibe ein Hobby, da wird man häufiger mal ganz überraschend mit solchen Situationen konfrontiert *g*
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 7:35 am
Cedric klingt auch gut...Naja, es gibt noch genug Bösewichte ohne Namen... Interessantes Hobby, das du da hast...Ich bin grad ein bisschen schwer von Begriff: Auf welche Situation genau bezog sich deine Aussage?
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Do Apr 29, 2010 7:52 am
Das bezog sich auf die Situation "fremde, unbekannte Leute in dunklen Schatten im Zimmer" und dergleichen.
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mo Jun 14, 2010 5:46 am
Also, für die, die es interessiert, hier ist ein neuer Abschnitt. Das Buch hat inzwischen ca. 130 DIN-A4 Seiten und wird vorraussichtlich ein dicker Schinken. Wenn ihr diesen Abschnitt lest, wisst ihr wahrscheinlich, worum es sich dreht ( was ich bisher ja immer als Geheimnis hütete ). Aber ein bisschen kombinieren müsst ihr schon!
Spoiler:
Die Turmuhr schlug zwölf, aber Florentin kam nicht. Keine klappernden Hufen waren zu hören, kein dunkler Reiter im Schatten der engen Gasse zu sehen. Wir blieben allein. Patrizia hatte sich wohl noch nicht ganz mit dem rostroten Pferd angefreundet, das ich von einem gewissen Sicherheitsabstand misstrauisch beäugte und das meine Blicke voller Argwohn erwiderte, jedenfalls stieg sie nicht auf. Stattdessen lehnte sie sich gegen das Hoftor, die Zügel lose in der Hand. Die Dächer der majestätischen Häuser boten Schutz vor dem Regen, der zwar nicht heftig, aber stetig fiel. Ich spürte die kühlen Tropfen kaum, aber Patrizia zog ihren alten Mantel enger um sich. Als wir bereits so lange warteten, dass Patrizia trotz unseres wetterstrategisch günstigen Standorts die Regentropfen über das Gesicht liefen und dem Pferd die Mähne in nassen Strähnen am Hals herunterhing, räusperte sie sich. „Ähm… meinst du nicht, dass du… also, ich meine, immerhin fliehe ich jetzt mit dir, ich muss ziemlich viel Vertrauen in dich setzen, aber ich weiß so gut wie nichts über dich.“ Die Frequenz der Wörter hatte sich zum Ende hin erhöht, diese Frage musste sie beschäftigt haben und vielleicht auch die Art, wie sie gestellt werden sollte. Natürlich hatte sie recht. Ich wusste – dank ihres Tagebuchs – fast alles über sie. Und sie, sie wusste nichts mehr als meinen Namen und mein Geburtsjahr. „Du willst wissen, wie ich mich in dein Leben verirrt hab, stimmt‘s?“, riet ich. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass sie rot wurde. Ich hatte voll ins Schwarze getroffen! Ich seufzte, denn ich wusste nicht ganz, ob ich die Geschichte tatsächlich laut erzählen konnte. Irgendwie schien das ganze damit wirklicher zu werden, echt – nicht mehr wie ein böser Traum. Allein der Versuch, die richtigen Wörter zu finden, erschien mir unmöglich. Wie sollte ich Patrizia erzählen, welche vergleichsweisen simplen Umstände mich in ihr Leben befördert hatten, mich und sie zu einer gemeinsamen Achterbahnfahrt verdammt hatten, deren steiler, adrenalinhervorrufender Teil noch vor uns lag? Selbst wenn sie die bloße Erklärung verstand – was sehr unwahrscheinlich war, da es darin von Autos, Supermärkten und MP3-Playern wimmelte -, niemals würde sie den Schmerz nachvollziehen können, die Reue, den Wunsch, meine unachtsame Tat rückgängig machen zu können. Und doch… ein Gedanke, der mir in der Gegend unterhalb des Herzes einen Stich verursachte, kreuzte in meinem Gehirn auf. Vielleicht verstand Patrizia mich ja doch. Vielleicht schon jetzt, vielleicht auch erst in ein paar Wochen. Aber eine gewisse Parallelität herrschte in unseren Schicksalen, und das lag vor allem an meinem – und Florentins – Drängen auf eine Flucht. Auch Patrizia musste Menschen zurücklassen, die sie liebte, und sie tat es aus freien Stücken. Sie wusste, dass sie ihnen Schmerz zufügen würde, dass es ihre Schuld sein würde, wenn sie in der nächsten Zeit nicht mehr richtig lachen konnten, trotzdem folgte sie Florentins Ruf, der eigentlich mehr als ein Rätsel aufwarf. Sie ließ Wunden zurück und sie wusste es, und das, weil sie den riskanten Weg wählte – willkürlich. Bei mir war es mehr oder weniger unwillkürlich gewesen. Vermutlich hatte sie schlussendlich mehr Recht darauf, sich Vorwürfe zu machen, auch wenn sie nicht gleich starb, sondern nur von der Bildfläche verschwand und niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Ich wusste nicht, was für die Hinterbliebenen schlimmer sein sollte. Und es war alles meine Schuld. Meine Schuld, weil ich hier aufgetaucht war und meine Schuld, weil ich ihr Leben gründlich durcheinander gewirbelt hatte, meine Schuld, weil ich ihr zu der Flucht gerade hatte, sie ermutigt hatte. Ich konnte gesagte Worte, ausgeführte Taten nicht mehr rückgängig machen. Aber ich konnte sie aufwiegen. Und eine Erklärung war sowieso längst überfällig. Mein Räuspern durchbrach die Stille. „Weißt du, was ein Automobil ist?“, fragte ich mit kratziger Stimme. Patrizia nickte, die Augen groß, gefüllt mit unausgesprochenen Fragen. „Gut.“ Und dann begann ich zu erzählen.
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mo Jun 14, 2010 8:01 pm
Ui, es geht weiter
Als erstes hab ich irgendwie den Eindruck, dass dein Schreibstil, deine Wortwahl und Satzkombination noch einen Tick besser geworden ist.
Ich glaube das Buch an sich, Thema und so, wäre eigentlich nicht so mein Fall, aber da ich mich gerade durch 800 Seiten des miesesten und spannungsfreisten Wälzers aller Zeiten, gerühmt als Bestseller und (Zitat) 'Epos im Stil des Herrn der Ringe', gequält habe, ist mein Geschmack ganz offensichtlich nicht das Maß der Dinge
Im Moment würde ich mich ein wenig vor einer laaangen und eher ereignislosen Erklärung fürchten, die zu folgen scheint...
Neutral betrachtet vermute ich, dass sehr viele Leute dieses Buch begeistert lesen würden.
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Jun 16, 2010 6:46 am
Nix mit langweiliger Erklärung... Danach gibt's ein paar Minütchen Zeitsprung, denn die Erklärung kennt der Leser bereits, weil er bei den Geschehnissen live dabei war...
Meinst du das mit der Stilverbesserung im Sinne von 'vorher war er schon sehr gut, jetzt noch besser' oder 'jetzt ist er gut'?
Über deine Einschätzung ( = dein letzter Satz ) habe ich mich natürlich gefreut und ich glaube ( ganz unbescheiden ), dass du vielleicht sogar recht haben könntest, denn zwei meiner Freundinnen haben bereits Ausschnitte gelesen, kennen also den kompletten Kontext und die fanden es beide "Hammer!".
Jeder hat wohl seinen eigenen Geschmack, ich wundere mich auch manchmal, was es so für Bestseller gibt...
Auf jeden Fall DANKE für dein Feedback!
Gast Gast
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Mi Jun 16, 2010 7:01 am
'vorher war er schon sehr gut, jetzt noch besser' <- das habe ich gemeint
Und nichts zu danken, ich bin ja nur ganz ehrlich Und ich finde es gut, dass danach nun keine lange Erklärung folgt. *erleichtert aufatme*
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Sa Jul 31, 2010 11:40 pm
Ja, ich hol' das alte Ding mal wieder hoch... Hier ist ein neuer Ausschnitt:
Spoiler:
Von unten her näherten sich zwei Reiter. Sie kamen in raschem Tempo näher und waren in dunkle Umhänge gehüllt, deren Kapuzen ihre Gesichter verschatteten. Beide waren sie von schmaler Statur, und nicht besonders groß, aber da sie über breite Schultern verfügten und im herkömmlichen Sattel ritten, musste es sich um zwei Männer handeln. Der eine saß entspannt und fast lässig auf seinem Ross, der andere steif wie ein Stock. Die Zäume der Tiere waren mit Silber beschlagen, das in der spärlichen Sonne funkelte, und zeugten von hoher Qualität. Bauern waren das nicht. Es waren wohlhabende Reisende. Ich musterte die Pferde genauer. Sie waren hochgewachsen und elegant, langbeinig legten sie die Strecke mühelos in guter Geschwindigkeit zurück, mit sauberem Gang und stolz erhobenen Köpfen. Es waren Zuchtpferde von teurem Geblüt, wie es sich nur wenige leisten konnten. Das eine Pferd war grau meliert und erinnerte stark an Marmor. Seine Beine jedoch waren schlammverkrustet und zeugten von dem langen und vermutlich nicht langsamen Ritt, den es bereits hinter sich hat. Sein Kumpan hatte kastanienbraunes Fell, das mich ein wenig an das von Cora erinnerte, aber Schweif und Mähne waren pechschwarz. Als die Tiere und Reiter dem Weg folgten und dank einer weitläufigen Serpentine parallel zu uns standen, erkannte ich einen etwa handgroßen schwarzen Fleck auf seinem Hinterteil, wie den Handabdruck eines Schornsteinfegers. Und da wusste ich, woher ich dieses Pferd kannte. Und fürchtete. „Verdammt. Steig sofort aufs Pferd!“, brüllte Florentin und war im selben Augenblick neben Onyx. Ich sah an Cora auf und blickte in Aurelias erstarrtes Gesicht. Verzweifelt rutschte sie so weit nach hinten wir irgend möglich, und ich beeilte mich, an Coras Seite hinaufzukraxeln. Florentin war schneller gewesen und rammte Onyx die Hacken in die Flanken. Erschrocken machte der Rappe einen Satz nach vorne. Ob er sich fing und von Florentin führen ließ oder einfach selbst kopflos losrannte, konnte ich nicht genau erkennen, jedenfalls sprang er mit einem Satz auf den Weg zurück. Es blieb keine Zeit, sich nach den Reitern umzusehen, um zu sehen, ob sie Tempo aufgenommen hatten, um uns zu verfolgen. Florentin trieb Onyx in den Wald hinein, wir folgten Augenblicke später. Das zum Glück schon dichte Blätterdach bot Sichtschutz, aber die Pferde konnten nur mühsam Boden gutmachen dank dem auf dem Boden verstreuten Sturmholz. „Folgen sie uns?“, schrie Florentin und wandte sich zu mir um. In seinen Augen stand etwas, das beinahe Angst nahekam. Nie zuvor hatte ich in seinen Augen Angst ablesen können. Ich kannte ihn nun noch nicht so lange, aber die hinter uns liegenden und noch kommenden Ereignisse waren Grund genug, Angst zu haben. Ich hatte zumindest welche. Bevor ich weiter über meine und Florentins Ängste philosophieren konnte, hörte ich ein Knacken hinter mir. Panisch wandte ich mich um und entdeckte einen dunklen Umriss, der durch den Wald stolperte, etwa fünfzig Meter hinter uns. Durch die dichten, teilweise sehr tiefhängenden Blätter erkannte ich nur vage die Figur eines Pferdes mit seinem Reiter. „Ja!“, rief ich, so leise wie möglich, um nicht unnötig auf uns aufmerksam zu machen. Florentins Kehle entkam etwas, das sich wie sehr brüskes Fluchen anhörte. Ich ignorierte es, und konzentrierte mich darauf, trotz Aurelias Klammergriff die Balance zu behalten und dabei noch den zugänglichsten Weg durch das Dickicht zu finden – nicht, dass ich wirklich aktiv auf Cora eingewirkt hätte. Obwohl ich nur auf dem Pferd sitzen musste – und mir Mühe geben musste, nicht runterzufallen – stachen meine Lungen schon nach kurzer Zeit, vielleicht vor der Furcht, die langsam in mir aufkeimte, sich kalt in mir ausbreitete wie Eis, mir für kurze Zeit die Luft nahm und mir schwarz vor Augen werden ließ. Was war, wenn sie uns einholten? Wenn sie mich fanden? Mich und Florentin? Was würden sie tun? Uns umbringen? Oder uns mitnehmen? Mich mitnehmen und Florentin umbringen? Alles gleichschlimm. Aber sie hatten uns gesehen, dessen war ich mir sicher. Sonst würden sie uns nicht so erbarmungslos folgen. Den Pferden machte es sichtlich Mühe, einen vertretbaren Weg durch den verwilderten Wald zu finde. Manchmal meinte ich, weißen Schaum aus Coras Maul auf den feuchten Boden tropfen zu sehen, ihr rostrotes Fell wurde am Hals bald dunkel vor Schweiß. Selbst, wenn wir noch nicht lange geritten waren – wir legten Tempo vor, und das über unzugängliches Gelände und nach einem bereits absolvierten Halbtagesritt. Zu allem Überfluss sickerte nun auch wieder mehr Licht durch die Baumkronen, bis der Waldrand nicht mehr zu übersehen war. Damit hatten wir unseren Sichtschutz verloren. Florentin wandte sich im Sattel zu mir um. „Reite ins Dickicht. In die Büsche. Wohin auch immer. Aber bleib im Wald. Ich reite aufs offene Feld. Sie werden mir folgen.“ Er sprach so leise wie möglich, aber ich konnte trotzdem nur hoffen, dass unsere Verfolger ihn nicht gehört hatten. Energisch schüttelte ich den Kopf. Obwohl sein Plan wahrscheinlich logisch und durchdacht war, meine Angst machte mich blind und der Gedanke daran, freiwillig in der Nähe von Maurice und Wolfram zu bleiben, jagte mir Schauer den Rücke herunter. Wir durchquerten die letzten Bäume. „Bitte, Patrizia!“ Florentins Augen waren flehend. Irgendetwas lag darin, was ich nicht so ganz einschätzen konnte. Vielleicht war es wirklich nur Angst. Vielleicht auch etwas wie…Schmerz. Sein Blick durchbohrte mich aufs Innerste und mein kläglicher Wille, zu widersprechen, löste sich augenblicklich in Luft auf. Ich zügelte Cora und trieb sie tiefer ins Dickicht hinein, in die drohende Dunkelheit, fort von dem trotz allem irgendwie sicher wirkenden Licht, bis sie tiefhängenden Äste mir kontinuierlich über das Haar streiften und nasse Blätter mir ins Gesicht peitschten. Das nasse Laub auf dem Boden raschelte, als schnelle Hufen nur ein paar Meter entfernt durch den Wald jagten. Beide Pferde versetzten den dünnen Ästchen Stöße, unter denen sie ein paar Sekunden lang erzitterten, das einzige Zeugnis von der Jagd, die sich soeben hier zugetragen hatte. Und dann waren sie auf dem offenen Feld. Onyx galoppierte mit allem, was er hatte, seine Beine verschwammen fast vor meinen Augen, so rapide bewegten sie sich. Maurice und Wolfram waren Florentin dicht auf den Fersen, Maurice – ich schätze, er war der Steife mit dem Marmorpferd – ließ sein Zügelende immer wieder auf die Kruppe seines Pferden schnellen, um ihn anzutreiben. Ich hielt die Luft an aus Angst, sie könnten ihn einholen. Aber Onyx hielt das Tempo trotz des vorangegangenen Rittes. Plötzlich waren sie verschwunden. Alle drei. Eine schreckliche Sekunde lang stockte mir das Herz, bis ich erkannte, dass sie in ein zweites Waldstück hinein galoppiert waren. Durch mächtige Bäume vor meinen Blicken verborgen entschied sich dort die Verfolgung. Sieg oder Niederlage. Und es stand zwei gegen einen. Die Zeit muss stehengeblieben sein. Ich vergaß mitunter, zu atmen, um mich herum versank alles in einem merkwürdig beruhigenden Nebel. Alles, wofür ich Augen hatte, war die kleine Wiese, die vor mir lag – und die leer blieb.
Auch, wenn es vielleicht so wirkt: es ist kein Pferdebuch ( ausnahmsweise )
Übrigens, das Buch ist inzwischen auf Seite 195 ( Din A4 ) angekommen = ca. 430 Seiten Dieser Ausschnitt stammt aber von Seite 135.
Thema: Re: Patrizia - Buch ohne Genre Di März 01, 2011 8:10 am
Ok, tut mir wirklich leid, dass ich diesen alten Schinken wieder hochhole... Tut mir wirklich leid, dass ich so lange nicht mehr on war... Tut mir wirklich leid, dass ich zuerst ganz selbstverliebt meinen eigenen Thread auffrische, bevor ich mit den gnadenloses Rezensionen anfange...
Aber ich ganz persönlich bin der Meinung, dass ihr erfahren sollte, was aus meinem Projekt geworden sind, und außerdem möchte ich ( wie schon so oft ) eure Meinung hören.
Und @Elvedina, diesmal ist es hoffentlich wenigstens ansatzsweise spannend. Dafür ziemlich aus dem Kontext gerissen.
Ach ja, wir reden hier von immerhin 440 DIN A4 Seiten, das sind umgerechnet 976 Normseiten ( => Buchseiten ). Und ich HOFFE, irgendeinen lebensmüden Verlag zu finden, der sich dieser Seiten annimmt.
Also, über Kommis würde ich mich SEHR freuen!
Spoiler:
Einen winzigen Schritt in die entsprechende Richtung hatte ich getan, da trat plötzlich jemand aus dem dichten Gebüsch und versperrte mir den Weg. Die Gestalt hob sich dunkel gegen das helle, farbenfrohe Herbstlaub hinter ihr ab, gegen die wenigen Sonnenstrahlen, die die dichten Wolken trotz leichtem Nieselregen durchbrachen. Die grauen Haare hingen meinem Widersacher nass in die Stirn, das Gesicht glänzte vom Regen. Fade graue Schlieren waren darauf auszumachen, auch war der Herr nicht ordentlich rasiert – offenbar lag eine lange Reise hinter ihm. Auf dem schwarzen, leicht lädierten Wollmantel, der fast bis auf den Boden hing, perlte das Wasser eines vergangenen Schauers ab. Unter dichten, silbergrauen Augenbrauen lugten sie hervor, durchtrieben wie die eines Fuchses, nur in einer solch penetrant blauen Farbe, dass mir sofort ein Schauer den Rücken hinunter rann. Diese Augen waren es, deren Blicke ich zu fürchten gelernt hatte, diese Augen, die es genau in zwei Gesichtern auf dieser Welt gab. Zwei Gesichter, die ich besser kannte, als mir lieb sein konnte. Als ich erschrocken einen Schritt zurückwich, verzog sich das nasse Gesicht in ein hämischen Grinsen, stellte eine Reihe leicht unregelmäßiger Zähne zur Schau, die, würde es sich bei dieser plötzlichen Erscheinung um ein Tier handelt, erwartungsfreudig gefletscht werden würden. Eine knochige Hand fuhr hinauf und ich zuckte zurück. Das Grinsen wurde noch etwas breiter, während die Hand betont langsam das Monokel justierte. Jenes Monokel, das mich seit Berlin beobachtete. Instinktiv machte ich noch einen Schritt zurück. Tadelnd schoss eine der grauen Augenbrauen in die Höhe. „Aber, aber, Fräulein Patrizia“, murmelte die leise, hypnotisch wirkende Stimme. „Begrüßt man so einen alten Freund?“ Ich schluckte. Das da war kein alter Freund. Das da war Maurice von Stettenwald.
--- hier ist im Manuskript das 52. Kapitel ---
Da stand er, Maurice von Stettenwald, schrecklich wie eh und je. Wie war er hierhin gekommen? Wie zum Teufel hatte er uns bis hierhin verfolgen können? Mein erster Instinkt sagte mir, dass ich schleunigst die Beine in die Hand nehmen sollte, der kleine Teil meines Gehirns, der noch nicht auf die Temperatur eines Kohleofens heißgelaufen war, widerlegte diese Anweisung sofort. Egal, wohin ich auf meinen kläglichen zwei Beinen auch floh, Maurice würde mich finden. Wenn er die Ausdauer besessen hatte, uns bis nach Trivinsbrook zu folgen, dann würde er auch jetzt nicht aufgeben. „Du wirkst nicht gerade erfreut, deinen Schwiegervater zu sehen“, stellte Maurice belustigt fest. Ich runzelte die Stirn. „Wieso sollte ich erfreut sein? Abgesehen davon, dass Sie niemals mein Schwiegervater sein werden!“ Ich kratzte all meinen Mut zusammen, um diese Worte halbwegs selbstbewusst herauszustoßen. Trotzdem klangen sie irgendwie gekeucht. „Wer hier was ist, das hast du wohl kaum zu bestimmen“, wies mich Maurice harsch zurecht und machte einen Schritt auf mich zu. Sofort taumelte ich zurück. Er schien auf mich herunterzublicken, und das, obwohl ich ihn keinen Zentimeter in der Größe nachstand. Seine eisblauen Augen lasen die Panik aus meinen, ergötzten sich förmlich daran. „Keine Sorge, ich trage keine Waffe bei mir“, beruhigte er mich schließlich, nachdem er sich endlose Sekunden lang an meiner Furcht erfreut hatte. „Ich bin gekommen, um zu reden.“ „Dann sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und danach verschwinden Sie endlich!“ Wieder kühne Wörter mit vorgetäuschtem Selbstvertrauen. „Wenn das ein Befehl war, so wirst du erkennen müssen, dass ich mich keinem Befehl beugen werde, erst recht nicht einer Anweisung aus deinem Mund.“ Er kam noch näher, so nah, dass ich seinen Atem bei jedem seiner Worte auf meinen Wange spüren konnte, ein unangenehm heißer Kontrast zur frischen Herbstluft. „Sie wollten ein Anliegen vorbringen“, versuchte ich ihn verzweifelt zu erinnern. „Richtig. Ich bin nicht gekommen, um Rache zu üben. Zunächst will ich verhandeln.“ „Nur zu.“ „Nicht mit dir, dummes Mädchen. Du hast keine Ahnung von nichts. Du verstehst nicht, worum es wirklich geht. Ich bin gekommen, um mit Florentin zu reden.“ „Was Sie Florentin sagen wollen, können Sie ebenso gut mir sagen!“ „Ich führe generell keine Verhandlungen mit weiblichen Mitgliedern dieser Gesellschaft, und mit jemandem wie dir, der nicht auch nur ein verhandelndes Wort würdig ist schon gar nicht.“ Zwar verstand ich nur die Hälfte von dem, was Maurice mir sagen wollte, aber ich verstand, dass es eine Drohung sein sollte, und überdies eine frauenfeindliche. Das war allerdings nichts Neues. „Kein einziges Wort werden Sie mit Florentin wechseln!“, behauptete ich panisch und suchte jetzt doch nach einem Weg, zu flüchten. Ich drehte mich um, doch keine Sekunde später stand Maurice erneut vor mir, um mir den Weg zu versperren. „Nicht so hastig, Fräulein Patrizia. Natürlich wird Florentin mit mir reden. Du wirst ihm höchst persönlich meine Bitte um ein Gespräch ausrichten.“ Ich versuchte zwecklos, einen Schritt an Maurice vorbei zu tun, aber wieder war er schneller. „Warum sollte ich das tun?“, fragte ich vorsichtig. Selbst wenn Maurice beteuerte, keine Waffe in der Brusttasche zu führen, im Gepäck hatte er allemal eine halbe Armee. Ich hatte eigentlich nicht vor, Florentin dieser auch noch freiwillig auszusetzen. „Ganz einfach“, antwortete Maurice gefährlich leise. „Weil dir dein eigenes Leben lieb ist. Und Florentins. Erklärt er sich nicht bereit, zu verhandeln, so seid ihr beide fällig.“ Sein rechter Mundwinkel zuckte leicht nach oben und verzog das Gesicht meines äußerlich so alltäglich wirkenden Gegners in ein überhebliches Lächeln. „Sind wir das nicht sowieso?“, brachte ich überrascht heraus. Ich hatte mich zu jeder Zeit dieses Abenteuers in dem Glauben befunden, vogelfrei zu sein, und in der Lichtung auf der anderen Seite des Kanals hatte Maurice auch keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen. Sollte sich das nun geändert haben? „Schweig still! Hast du nicht gehört, dass ich bereit bin, die Bedingungen zu euren Gunsten zu verändern?“, fuhr mich Maurice ungeduldig an. „Aber… aber was verlangen Sie denn? Wir haben nichts, weder Pferde, noch Geld, noch… noch Aktien oder so etwas in der Art! Alles, was wir besitzen, ist unser Leben!“ Und vielleicht – großzügig gesehen – das Leben des Anderen. Aber mehr auch nicht. „Genau deshalb möchte ich mit Florentin reden – und nicht mit dir. Du bist dir nicht bewusst, wie scheußlich du lügst, wenn du sagst, dass du nichts besitzen würdest.“ Er verdrehte kurz die Augen. „Nicht, dass ich es dir auf die Nase binden würde.“ Ach, in Wirklichkeit hieß Florentin also Krösus und hatte einen Goldschatz unter seinem Bett versteckt? Das bezweifelte ich so stark wie die Tatsache, dass Maurice ein netter Mensch war. „Ich werde ihm Ihre Bitte um ein Gespräch ganz bestimmt nicht ausrichten.“ Ein zweites Massaker wollte ich nämlich eigentlich nicht mehr erleben müssen. Eher würde ich mich selbst Maurice stellen. Mit trotzig zusammengekniffenen Lippen sah ich Maurice an, und hoffte, dass meine bereits verdächtig brennenden Augen mein vorgetäuschtes Selbstvertrauen nicht entstellten. Mit meinen Worten fiel Maurices kultivierte Fassade jedoch auf einmal. Mit dem Monokel und dem kleinen grauen, trotz aller wohl vorangegangenen Strapazen sorgsam frisierten Schnauzers konnte man Maurice allenfalls für einen italienischen Kleinganoven halten, der alle paar Wochen einmal einen Kavaliersdelikt beging. Nun allerdings packte er mich plötzlich beim Ohr und zerrte mein Gesicht damit ruckartig so nah an seines, dass ich bis an den Grund seiner tiefblauen Augen blicken konnte, wo ich nichts als Hass und Wut fand.