Für dich (eher traurig)

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen um besser sehen zu können, was dort los war. Viele Menschen, darunter auch einige die ich kannte, umringten etwas. Doch ich konnte es nicht erkennen. Innerlich verfluchte ich mich wieder wegen meiner Größe – wieso musste ausgerechnet ich so klein sein, wo meine Eltern doch ‚die Riesen’, diesen Namen hatten einige böse Mäuler hinter ihren Rücken verbreitet, waren? Verfluchte Gene.
Schließlich hielt ich es nicht länger aus und drückte mich unter dem Protest einiger Leute, teils weil ich ihnen auf die Füße tritt, teils weil ich ihnen die Sicht nahm, weiter nach vorne, bis plötzlich eine grobe Hand nach mir griff. Sie schlang sich um meine Taille, und ehe ich mich wehren konnte erschien ein dunkles Gesicht über mir. Ich kniff die Augen zusammen, doch ich konnte nur schemenhafte Umrisse erkennen, da mir die Person, der den Arm, der mich umschlang gehörte, den Zugang zum Licht versperrte.
„Hey, Süße“, fauliger Atem schlug mir ins Gesicht. Eine dunkle Vorahnung machte sich in mir breit, und mit ihr auch Angst.
Meine Vorahnung wurde innerhalb der folgenden Sekunden bestätigt. Als meine Nase erneut den fauligen Atem wahr nahm, benebelte er mich und ich drohte ohnmächtig zu werden. Für einen Moment schwankte ich auf den Beinen, allerdings hinderte mich der Arm daran, umzufallen. Es dauerte eine Weile, bis ich die Worte verstand: „... Bett ist noch ein Platz frei... kommst du mit?“
Allein die Worte gaben mir endgültig den Rest. Ich sank in die Arme des Mannes.

Als ich die Augen öffnete, versperrte mir irgendetwas die Sicht. Schließlich erkannte ich die Silhouette eines Mannes. Ein dreckiges Grinsen befand sich auf seinem Gesicht, und die Zähne die sich in seinem Mund befanden, waren nicht weiß, sondern quittegelb, ein paar fehlten teilweise, andere vollständig.
Schlagartig erinnerte ich mich wieder an das was er mit mir vorhatte. Mir stockte der Atem und ich schaute mich schnell um.
Glücklicherweise befand ich mich noch auf dem Marktplatz. Doch nicht mehr lange, wenn ich nicht etwas tat. In der Schnelle fiel mir nur eine Sache ein.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, verzog meine Lippen zu einem verführerischen Lächeln und hauchte: „Ah... wie bin ich denn hierher gekommen? Hast du mich etwa getragen?“
Das dreckige Grinsen fand sich erneut auf dem Gesicht des Mannes wieder. „Natürlich“, schnaubte er, „wer denn sonst.“
Und dann beging er einen Fehler. Er war sich seiner Sache sicher.
Dies nutzte ich aus. Mit einer schnellen Bewegung trat ich dem Mann in die Magengrube, rein instinktiv, denn ich wusste bis dahin nicht, dass solche Kräfte in mir lauerten.
Er sank mit einem Stöhnen zu Boden – und ich begann zu rennen, bevor er sich aufrappeln konnte.
Schließlich erreichte ich erneut die Menge. Da ich keinen anderen Ausweg wusste, fragte ich einen Passanten. „Entschuldigung für die Störung, aber wisst Ihr vielleicht, was hier vorgeht?“
Er lächelte. „Ja, sicher. Hier wird eine Frau hingerichtet, wegen mehrmaligen Mordes“, seine Stimme senkte sich, „und weil sie eine Hexe sein soll.“
„Eine Hexe? Also bitte, was ist denn das für ein Märchen...“
Mit einer Handbewegung brachte er mich zum Schweigen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich daran glaube, Madame. Nun ja, die Leute glauben das, weil ihr Haar orange ist, und sie grüne, leuchtende Augen hat. Das ist eigentlich schade, denn sie ist recht hübsch.“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Aber... ach ja, ihr Name soll Marie sein. Genau, Marie heißt sie.“
Ich war unfähig ein Wort zu sagen.
Es gab nur einen Gedanken in meinem Kopf: Marie. Meine Marie. Oh Gott, was hast du bloß getan?
Mit einem flüchtigen Danke, das lediglich gehaucht war, drehte ich mich um, rannte genau in die Menge hinein. Die wütenden Blicke der Leute ignorierte ich, das einzige was noch zählte, war, dass ich meine Stütze retten musste.
Stütze, Marie, oder mein Engel, wie auch immer ich sie nannte, sie war das Wichtigste in meinem Leben, was ich je besaß.
Als ich schließlich in der vordersten Reihe der Schaulustigen angekommen war, blieb mir das Herz vor Schreck stehen. Inmitten des Platzes, der sich vor mir öffnete, stand sie auf einem Podest, der Strick, der grob gewoben war, befand sich schon um ihren Hals. Jeweils rechts und links von ihr befanden sich zwei stämmige Personen. Beide waren schwarz gekleidet, hatten einen gleichfarbigen Lendenschurz an.
Vor dem Podest stand ein älterer Mann, dessen Haare schon Spuren seines Alters zeigten. Gestikulierend hielt er eine Rede: „... die Hexe wird büßen müssen. Zwar kann sie die Kinder, die getötet wurden, nicht ersetzen, aber wir werden Rache bekommen. Es ist unentschuldbar, was sie tat.“
Mit einer Handbewegung deutete er auf die beiden Männer auf dem Podest. Er senkte den Kopf. „Tut was ihr tun müsst.“
„Nein!“ Ich hechtete verzweifelt vor. Jetzt oder nie. „Das ist nicht wahr! Ich... Ich bin die Hexe!“
Durch die Menge ging ein erstauntes Raunen. Ich atmete heftig. Das war das Ende.
Marie sah mich nicht an. Sie wurde weggestoßen, aber doch freigelassen.
Der alte Mann trat zu mir vor. „Ah, hübsch. Dann wirst du jetzt dem Tod folgen. Aber bitte erkläre uns doch noch, warum dann die Rothaarige dich in Schutz genommen hat.“
„Hat sie nicht. Ich habe sie verhext. Es ist alles meine Schuld.“
„Stirb, Hexe, stirb!“, setzte das Volk an.
Marie war verschwunden. Sie hatte mich nicht eines Blickes gewürdigt, nicht mal eine Träne hatte sie geweint. Bedankt hatte sie sich auch nicht.
Ich hatte mein Leben für einen undankbaren Menschen hergegeben.
Für Nachdenken hatte ich keine Zeit mehr. Der Tod kroch mir über den Rücken und ich gab mich ihm völlig hin.